Agile Transformation ist keine triviale Maschine
Wer heute über agile Transformation spricht, hört häufig von der „Müdigkeit des Agilen“. Nach gut zehn Jahren ist die Euphorie über die Agilität verflogen. Viele dachten sie würden einen Sprint laufen, und mussten erkennen, dass sie sich in einem Marathon befinden. Andere haben den Anspruch von mehr Agilität mit Ansätzen des Lean Managements gekoppelt und vorwiegend Verwirrung erzeugt.
Wir wollten wissen, wo wir heute stehen, welche Lehren man ziehen kann und wie es weitergehen soll. Um dies zu erfahren, wurden drei Praktiker:innen der agilen Transformation zu einem Workshop eingeladen. Gemeinsam mit 39 Alumni des Neuwaldegger Curriculums konnten wir zwei Tage lang hinter die Kulissen der agilen Transformation blicken.
Aus drei Organisationen stand uns jeweils ein:e Praktiker:in für intensive Beforschungen zur Verfügung. Diese sind: die Deutsche Bahn (Markus Wolfgram), genauer die Inseln der Selbstorganisation innerhalb des Konzerns, die KEBA (Roland Peterseil), ein international tätiges Technologieunternehmen mit über 2000 Mitarbeitenden, und die Beratergruppe Neuwaldegg (Monika Dickinger-Steiner).
Alle drei Unternehmen haben die agile Transformation zu unterschiedlichen Zeiten (vor 10 – 7 Jahren), aus unterschiedlichen Gründen begonnen. Gemeinsam war der Anspruch einer radikalen Transformation, eines Wandels 2. Ordnung. Es sollte nach dem Change nicht besser, sondern ganz anders werden. Dies geht nicht ohne Eingriff in die Führungs- und Machtstrukturen. Gemeinsam war auch, bestimmte Bereiche (die Produktion) oder Kompetenzen (Personaleinstellungen) von dieser Veränderung auszunehmen. Ziel war die Innovation / Anpassungsfähigkeit – nicht die Effizienz der Organisationen – zu steigern, was in allen Fällen gelungen ist. Andere Ziele wurden nicht erreicht und von manchen Methoden der agilen Transformation hatte man sich mehr versprochen. Heute stellt sich vor allem die Frage, wie die Veränderung fortgeführt werden soll.
Eine Erkenntnis unserer Forschung ist, dass die Art der Veränderung sich verändert hat. Die Bezeichnung „Müdigkeit des Agilen“ wird dem nicht gerecht. Müde ist, wer glaubte mit Anstrengung in kurzer Zeit mit neuen Methoden einen radikalen Change bewirken zu können, und feststellen muss, es braucht verschiedene Hebel, Ausdauer und einen anderen Fokus. Mit Hilfe unserer Change-Landkarte (siehe unten) können wir diese Verschiebung verorten. Es geht immer noch um Veränderung, doch anstelle einer agilen Transformation haben wir es heute mit „Going agile / Lernende Organisation“ zu tun. Aus der anderen Positionierung des Veränderungsvorhabens ergibt sich Einiges: eine andere Art der Steuerung und Rolle des Top-Managements, eine Verschiebung der Bedeutung von Visionen und „Leuchtturmprojekten“ zum Purpose. Die Art der (Selbst-)Führung wird erfolgsrelevant. Die Bedeutung von Personen (vor allem ihrer Haltung zu Ungewissen) nimmt zu, die der Methoden der agilen Transformation nimmt ab. In den Mittelpunkt rückt die fortlaufende Arbeit an der eigenen „agilen Fitness“ und die Erkenntnis, dass in die nächsten Schritte investiert werden muss. Es ist ein Prozess, kein Projekt, das bald abgeschlossen wird.
Quelle: Boos/Buzanich-Pöltl: Moving Organizations, 2020
Eine weitere Erkenntnis war, dass Reflexion und die Bereitstellung von Räumen für Reflexion heute DER kritische Erfolgsfaktor sind. „Selbstorganisation ist keine triviale Maschine“, so die Zusammenfassung einer der Forschungsgruppen. Nur durch Reflexion (Beobachtung, Austausch, Auswertung, nächste Schritte entwickeln) und Aufgreifen von Irritationen kann wirkungsvolle Weiterentwicklung erfolgen.
Was wir noch gelernt haben
- Hilfreich ist, zwei Formen der Einführung agiler Transformation zu unterscheiden: die kulturkompatible und der Kulturbruch. Bei der kulturkompatiblen werden nur jene Methoden und Schritte eingesetzt, die zur Kultur passen. Kultur geht vor Methode. Wenn z. B. eine Methode eine Verschriftlichung / Formalisierung erfordert, die der Handschlagqualität der Kultur zuwiderläuft, wird sie fallen gelassen. Beim Kulturbruch wird bewusst auf diese Veränderung gesetzt und z.B. ein IT-System eingeführt, das bestimmte Dateneingaben erforderlich und transparent macht, auch wenn man bisher per Zuruf agiert hat. Methode geht hier vor Kultur. Empfohlen wird, sich für ein Prinzip zu entscheiden. Ein Hin- und Herspringen erzeugt viel Unruhe und bremst die Entwicklung.
- Die Rolle des Top-Managements und die Aufmerksamkeit, die sie der agilen Transformation widmet, sind erfolgskritisch. Zu Beginn der Umstellung auf agile Transformation und Selbstorganisation braucht es überzeugtes Top-Management. Wenn das Top-Management später den Fokus anderswo hinlenkt, „merkt“ dies die Organisation. Manager:innen, die gezielt ihre Karriere verfolgen, wandern ab, während andere angezogen werden. Dies sollte man nutzen und darauf achten, dass bei den Neuen die Haltung wichtiger ist als ihre formale Qualifikation. In späteren Phasen ist eine detaillierte Aufmerksamkeit des Top-Managements weder realistisch und noch notwendig (und manchmal sogar hinderlich). Das Top-Management sollte die Rahmenbedingungen schützen und weiter in die Transformation investieren.
- Führungswechsel sind eine heikle Bruchstelle. Eine neue Führung mit alter Haltung kann Jahre der agilen Veränderung zurückdrehen. Ein Learning ist daher: achte und gestalte die Prozesse des Wechsels von Führungskräften.
- Es gibt keine erfolgreiche agile Transformation ohne Personalwechsel. Also keine Panik, wenn Mitarbeitende gehen (manche kommen zurück).
- Der “case for action” ist immer wichtig, doch besser ist es mehrere, abgestufte C4A zu haben. Je nach Zielgruppe kann ein bestimmter verwendet werden. Die eigentlichen, tieferen Beweggründe sind nicht überall kommunizierbar.
- Die Methoden der agilen Transformation (Scrum, Design Thinking, Lean Startup) sind für Teams entwickelt worden, und dort wirken sie auch. Organisationen, die mehr als ein Team sind, müssen anders erfasst werden.
- Aus der Prozessperspektive ist eine frühe, breite Einbeziehung der Betroffenen und Stakeholder selbst dann zu empfehlen, wenn das Ziel und das Vorgehen noch unklar sind.
- Bei der agilen Transformation wird das ganze Spektrum des Organisationsdreiecks (Entscheidungsprogramme / Kommunikationswege / Personal/Kultur; siehe unten) genutzt, ohne, dass wir uns einig wurden, wo der Schwerpunkt lag.
- Auf Personenebene braucht es die Fähigkeit mit Unbestimmtheit und Unsicherheit umgehen zu können. Wird die Ambiguitätstoleranz mit der Fähigkeit gekoppelt, Spannungen und Beobachtungen zur Sprache zu bringen, und damit bearbeitbar zu machen, entsteht die Führungskompetenz, die hier dringend benötigt wird.
Es gibt noch viel mehr zu berichten. Danken möchte ich den drei Fallbringer: innen, die in bewundernswerter Offenheit zwei Tage lang sich allen Fragen und Interventionen gestellt haben. Und abschließen will ich mit der Zusammenfassung einer weiteren Gruppe: „Wenn wir mit einem klar definierten Purpose beginnen, und auf unsere knappen Ressourcen schauen, haben wir Erfolg, sofern wir Reflexionsprozesse gut integrieren.“
Über den Autor
Frank Boos ist fast von Beginn an dabei, beinahe Neuwaldegger der 1. Stunde. Mittlerweile ist er Senior Partner und Lehrgangsleiter unserer Top-Weiterbildung – das Neuwaldegger Curriculum (NC). Über 400 Absolvent: innen bilden ein professionelles Netzwerk, das jährlich mindestens einmal zu einem Workshop zusammenkommt. An diesem „Follow Up“ beteiligen sich die Teilnehmer:innen des aktuellen NC und Teilnehmende aus den früheren Jahrgängen . Networking ist dabei ein wichtiger Aspekt. Jedes Jahr hat es einen neuen Schwerpunkt, diesmal „ Erfahrungen mit der Agile Transformation“. Die Ergebnisse dieses Workshops sind Basis für diesen Blogbeitrag. Außerdem ist Frank Autor einiger Bücher und Fachbeiträge, zuletzt erschienen ist „Moving Organizations – Wie Sie sich durch agile Transformation krisenfest aufstellen“, das er gemeinsam mit Barbara Buzanich-Pöltl geschrieben hat.
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