Autorität durch Vertrauen und Verständigung
Manche Menschen führen entsprechend der „neuen Autorität“, ohne dass sie jemals etwas von New Work gehört hätten. Zu diesen Menschen zählt Rolf Bartsch, mittlerweile pensionierter Geschäftsführer des THW Oldenburg. Ich begegnete ihm im Haus eines Freundes und wir kamen rasch ins Gespräch über die Erfahrungen, die er als Leiter zahlreicher Hilfseinsätze im In- und Ausland machte. Gemeinsam mit – überwiegend ehrenamtlichen – Helfer:innen war er unter anderem im Einsatz nach dem schweren Zugunglück in Eschede, dem schweren Erdbeben in der Region Sichuan in China sowie nach dem Tsunami in Indonesien. Häufig war er einer der ersten THW-Helfer:innen vor Ort und übernahm die Erkundung in den Schadensgebieten. Er berichtete mir, dass er als Einsatzleiter niemals durch Druck und Kontrolle, sondern stets durch Vertrauen und Verständigung Autorität erlangt hat. Wie genau ihm das gelungen ist, erzählt er in diesem Beitrag. Lesen Sie zugleich, wie sehr er damit im Stil einer neuen Autorität geführt hat, die wir in unserem Buch „Moving Organizations“* beschreiben.
Fürsorge und Nähe als wesentliches Prinzip
Oberstes Ziel jeder Mission war für mich immer, gemeinsam mit dem Team wieder gesund nach Hause zu kommen. Gesund an Leib und Seele. Das stand für mich über der eigentlichen Auftragserfüllung, vor der Frage: Wie können wir unser Einsatzziel optimal erfüllen?
Mir waren solche Prinzipien immer sehr wichtig. Noch wichtiger ist es, danach zu handeln. Wenn jemand im Einsatz gesundheitliche Schwierigkeiten hat, dann kümmere ich mich darum, dass er nach Hause kommt. Wenn seine Frau krank geworden ist, dann kümmere ich mich darum, dass er zu ihr kann.
Daran wird man als Führungskraft gemessen. Jeder im Team muss wissen und spüren: Ich darf zu dir kommen!
Die neue Autorität in „Moving Organizations“ entwickelt sich aus Nähe, Interesse und Fürsorge. Die Quelle von neuer Autorität heißt Präsenz. Das heißt: Ich bin hier und bleibe, bis wir eine sinnvolle Lösung entwickelt haben.
Vertrauensbildende Dialoge auf dem Weg zum Einsatz
Die Grundlage dafür habe ich über kleine Schritte im Vorfeld geschaffen. Ich habe immer gleich zu Beginn in Gesprächen geklärt, was im Miteinander zählt.
Insbesondere die Anreise zum Einsatzort habe ich gezielt zur Vertrauensbildung genutzt. Konkret ging es mir darum, eine Beziehung aufzubauen, den Menschen kennenzulernen und Erwartungen abzugleichen. Ich fand es wichtig, vom Start weg Transparenz darüber herstellen, was wir voneinander erwarten können. Wie tickst Du? Wie ticke ich? Was sind meine und deine Stärken und Schwächen? Was brauchen wir, damit wir gut arbeiten und einander vertrauen können?
Das ist auch deshalb nötig, weil die Teams, die in solche Einsätze gehen, nicht gewachsen sind. Sie lernen sich oft erst im Moment des Abflugs kennen. Und wenn Einsätze scheitern, dann liegt das nicht an mangelnder Fachkompetenz, sondern an Störungen im menschlichen Miteinander, daran, dass etwas im Team nicht stimmt.
In „Moving Organizations“ kommunizieren Führungskräfte transparent und gleichzeitig. Damit schaffen sie einen Resonanzraum, der tragfähige Lösungen ermöglicht und Vertrauen schafft.
Vertrauen in die Expertise der Mannschaft
Ich habe immer uneingeschränkt auf die Expertise der Leute vertraut; nie dran gezweifelt, dass sie Expert:innen sind, die ihre Aufgabe auch unter herausfordernden Bedingungen gut bewältigen.
Wenn ich zum Beispiel der:m Truppführer:in den Auftrag erteile, die Lage zu erkunden und einen geeigneten Ort für die Trinkwasseraufbereitungsanlage zu finden, vertraue ich auf sein:ihr Urteil. Dazu muss man wissen, dass so eine Suche ein komplexer Prozess ist, für den es eine umfassende Kompetenz braucht. Wir können nicht einfach losziehen und sagen: Das ist ein schöner Ort für unsere Anlage und dann ein Gemüsebeet plattmachen, von dem sich eine Familie ernährt.
Ich mache also klar: Ich verlasse mich auf Dich. Du bist der:die Expert:in. Wichtig für mich ist in dieser Phase, dass ich mich nicht einmische. Sonst werde ich unglaubwürdig, entkräftige meine vorherige Aussage. Dann kann ich gleich alles selber machen.
In „Moving Organizations“ werden Einflussmöglichkeiten und Entscheidungsbefugnisse verteilt. Wir sprechen hier von verteilter Autorität auf Basis von Expertise.
Vertrauen braucht Transparenz und Konsequenz
Nicht nur, aber besonders in solchen Einsätzen ist es enorm wichtig, dass sich ein Teammitglied auf das andere verlassen kann. Ich habe mich daher immer bemüht, Entscheidungen transparent zu machen und konsequent umzusetzen. Wann immer möglich und sinnvoll habe ich die Mannschaft dabei einbezogen.
Ich habe die Situationen offengelegt, die Kriterien aufgezeigt, Meinungen eingeholt und versucht, gemeinsame Entscheidungen herbeizuführen. Das hat im Einsatz natürlich auch Grenzen. Über den Auftrag kann diskutiert werden, wenn die Zeit dafür da ist. Wenn nicht, muss es auch anders gehen. Dann wird entschieden und das Team oder der Einzelne setzen dann die Entscheidung um.
Nur zweimal habe ich Situationen erlebt, in denen ich Befehle geben und Konsequenzen bei Nichteinhaltung androhen musste. Aber auch in den Fällen ging es für mich um das Vertrauen. Wenn ich da nicht konsequent bin, verspiele ich das Vertrauen der anderen in Entscheidungen und in meine Person.
Führungskräfte in „Moving Organizations“ können konsequent auf die Einhaltung von Grenzen und Regeln achten. Damit schaffen sie sichere strukturelle Räume und klare Verhältnisse.
Als Führungskraft ein Vorbild sein
Selbstverständlich erwarte ich von mir selbst das Gleiche wie von anderen. Vertrauen erhält man von der Gruppe nur, wenn man selbst Vorbild ist, zu dem steht, was man sagt und entsprechend handelt. Da wird genau hingesehen.
Einmal hatte ich selber eine falsche Entscheidung getroffen. Ich war einige Tage vor dem Team in Banda Aceh eingetroffen und hatte einen falschen Platz für unser Camp ausgesucht. Am schlimmsten war für mich, dass ich meine eigenen Ansprüche nicht erfüllt hatte. Schließlich ist der Schutz meiner Leute das allerwichtigste für mich. Umso mehr haben mich die Vorwürfe aus dem Team getroffen, das sei „fahrlässige Körperverletzung“.
Selbstverständlich habe ich meinen Fehler zugegeben und die Entscheidung revidiert. Wir haben einen anderen, besseren Ort gesucht und bald gefunden. Das Vertrauen des Teams zurückzugewinnen war dagegen wesentlich schwieriger. Durch diese Erfahrung hatten sie ein Vor-Urteil. Ich habe dann den Wortführer der Kritiker eng in alle weiteren Entscheidungen eingebunden und ihn zu meinem „Sprachrohr“ gemacht. So ist es mir nach und nach gelungen, das Vertrauen des Teams zurückgewinnen.
Später kamen einige von ihnen auf mich zu und sagten, sie würden jederzeit wieder mit mir in einen Einsatz gehen. Das hat mir gezeigt, dass das Vertrauen sogar noch größer werden kann, wenn es gelingt, zu eigenen Fehler zu stehen und gut damit umzugehen.
Führungskräfte in „Moving Organizations“ sind bereit, sich selber zu reflektieren und ihre Impulse zu kontrollieren. Dadurch gewinnen sie Respekt und erweisen sich als verlässlich.
Vertrauen braucht „Spürsinn“
Als Führungskraft muss ich spüren können, was die Leute brauchen. Ich muss rechtzeitig erkennen, wenn etwas schief läuft im Team. Das gilt ganz besonders bei solchen Einsätzen. Denn neben der eigentlichen Aufgabe vor Ort können Stress, Hitze, Zusammenleben auf engstem Raum, schlimme Bilder und die Trennung von daheim Quellen für Spannungen oder Störungen im Team sein. Das sind manchmal ganz banale Sachen. Man ist über Wochen gemeinsam in einem Zelt, es schnarcht jemand im Team. Die erste Nacht ohne Schlaf ist noch kein Problem. Auch die zweite geht. Danach wird es schwierig. Ich kann ja nicht jedem sein Einzelzelt dahinstellen. Als Verantwortlicher für das Team muss ich diese kleinen und großen Störungen schnell wahrnehmen und im Gespräch lösen.
Dazu braucht es die Fähigkeit, einen echten Dialog zu führen. Eine gute Führungskraft spürt und handelt. Und auch hier ist wieder Vertrauen vonnöten, denn ohne Vertrauen können bestimmte Themen gar nicht auf den Tisch gebracht werden.
Führungskräfte in „moving organizations“ nehmen ihre Schlüsselrolle im Umgang mit Konflikten an. Gelingt es ihnen, diese gut zu lösen, können neue Räume im Miteinander eröffnet werden.
Vertrauen als Grundhaltung
Ich glaube, dass Vertrauen eher nicht erlernbar ist, sondern eher erfahren wird. Vertrauen wächst durch Erfahrungen.
Ich bin mit meinem Vertrauen auch schon auf die Nase gefallen, aber ich habe dennoch an meiner Überzeugung festgehalten, dass Menschen Vertrauen verdienen. Für viele ist das völlig ungewohnt. Die reagieren sehr misstrauisch nach dem Motto „Was willst Du denn von mir?!“ Wenn sie dann erleben, dass ich ihnen wirklich vertraue und sie nicht kontrolliere, entwickeln sie ihrerseits Vertrauen.
Durch das Vertrauen zwischen Führungskraft und Teammitgliedern sowie den Teammitgliedern untereinander entwickelt sich ein Gesamtteamvertrauen. Dazu braucht es zum Beispiel die Vertrauensbildung beim Flug und gleichzeitig die Bereitschaft jedes Einzelnen, Spannungen anzusprechen.
In Krisensituation, wenn es hart auf hart kommt, zeigt sich, ob das Vertrauen trägt, ob es echt ist. Ob ich als Führungskraft meinem Team auch dann vertraue oder auf hierarchische Prinzipien zurückgreife. Das ist nicht immer leicht. Denn bei so einem Einsatz habe ich als Führungskraft rund um die Uhr die Verantwortung und Fürsorgepflicht für das Team. Wenn ich hier kein Grundvertrauen habe, halte ich das auf Dauer nicht aus.
„Moving Organizations – Wie Sie sich durch agile Transformation krisenfest aufstellen“
lautet der Titel des neuen Buches meiner Berater-Kolleg:innen Frank Boos und Barbara Buzanich-Pöltl. Das Buch vermittelt ein grundlegendes Verständnis von agiler Transformation, bietet einen Orientierungsrahmen für Change-Strategien und gibt einen Überblick über die 9 Hebel für „Moving Organizations“. David Max Jeggle hat hier Methoden zur konkreten Umsetzung beigesteuert. Hebel Nummer 7 beschreibt die Bedeutung von „Führung und Macht“, wobei – auf Basis einiger grundlegender Betrachtungen zum Thema Macht – ein Bild neuer Autorität und ihrer Prinzipien gezeichnet wird.
Der Autor
David Max Jeggle ist Dipl. Betriebswirt und bei Neuwaldegg als systemischer Organisationsberater mit den Schwerpunkten Purpose Driven Organizations, agile Transformation und Führung unterwegs. Das Gespräch mit Rolf Bartsch hat ihn an seine Zeit als Zivildiener beim Rettungsdienst erinnert. Dort hat er selbst erfahren, wie wichtig persönliche Beziehung und ein funktionierender Austauch sind – sie können das Team auch in Notfallsituationen tragen.
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