Die Change-Landkarte (Frank Boos)
Anfangs war Herr Brenner, der Bereichsleiter einer Vertriebsorganisation mit über 200 Mitarbeiter:innen, nicht sehr erfreut, als wir ihn baten sein Changeprojekt in der Landkarte zu verorten. Er hatte angenommen, dass wir gleich eine konkrete Vorgehensweise vorschlagen würden.
Es ging um ein sehr anspruchsvolles Projekt: der Schließung und Zusammenlegung von einigen Filialen, dem daraus folgenden Abbau von 15 % der Mitarbeiter, und der Neustrukturierung der Vertriebsprozesse. Zu dem musste diese Veränderung bei laufenden Geschäft durchgeführt werden.
Wir konnten uns gut in ihn hineinversetzen und baten ihn dieses Projekt symbolisiert durch einen kleinen Kreis aus Pappe in der von uns vorbereiteten Matrix zu platzieren. Dazu halfen ihm die zwei Achsen: Veränderungsnotwenigkeit und Veränderungsfähigkeit.
Veränderungsnotwenigkeit beschreibt die Dringlichkeit, den Druck, den diese Organisationseinheit hat um sich zu verändern. Immer wenn die Veränderungsnotwendigkeit sehr hoch ist, geht es um das Überleben. Veränderungsfähigkeit wiederum beschreibt die Kompetenz und die Bereitschaft einer Organisation diese Veränderung durchzuführen. Mit dieser Art von Veränderungen hatte diese Organisation schon einmal etwas zu tun und weiß sie zu handhaben. Es sind zwei Skalen, waagrecht (der Blick nach innen) und senkrecht (die Relation mit dem Umfeld), die man auch getrennt voneinander betrachten kann, um eine Ausgangssituation zu verorten.
Nach kurzem Nachdenken legte Herr Brenner den Kreis ganz links oben auf das Blatt. Der Druck war offensichtlich und die Sorge groß, dass die eigene Organisation damit nicht gut klarkommen würde. Es hatte lange keine größeren Veränderungen gegeben. Viele Jahre war man erfolgreicher als der Wettbewerb, doch nun war man für etliche Kunden zu langsam geworden, hatte große Projekte verloren und die Margen waren eingebrochen.
Hier musste etwas getan werden und zwar sofort. Dies wirkte wie eine brennende Plattform, ein Fall für eine Sanierung.
Im weiteren Verlauf unseres Gespräches wurden Ressourcen und Fähigkeiten des bisher erfolgreichen Vertriebs sichtbar. Man war nach den ersten Rückschlägen wachgerüttelt worden und hatte begonnen erste Ideen für einen Neuanfang zu konzipieren. Daher verschob Herr Brenner den Kreis ein Stück nach rechts unten.
Dies ist kein Sanierungsprojekt mehr, sondern ein Reengineeringprojekt. Bei einem Sanierungsvorhaben wollen wir, bildlich gesprochen, die Feuerwehr. Jemand der unterschiedliche Feuer einzuschätzen weiß, in Notsituationen zupacken kann, der Wissen für brenzlige Situationen mitbringt. Ein Sanierungsprojekt braucht kurze Entscheidungswege.
Das Ziel ist zu überleben.
Ein Reengineeringprojekt braucht den Ingenieur. Hier wird gemessen, analysiert, ein Plan entwickelt und konstruiert. Es wird ein Konzept erarbeitet, das begründbar ist und einen Idealzustand abbildet und wie eine Blaupause auf die Realität übertragen werden kann.
Ob wir von einem Reengineering- oder Sanierungs-Projekt ausgehen, hat weitreichende Folgen. Man sollte in einen Sanierungsfall besser keinen Experten für Reengineeringvorhaben rufen oder umgekehrt. Es geht um Prozesse, Kommunikation und Erwartungen. Die gesamte Herangehensweise ist eine andere. Ob Herr Brenner seinem Management und seinen Mitarbeitern das Bild eines Sanierungsfalls vermittelt oder das eines planmäßigen Umbaus wird unterschiedliche Reaktionen auslösen.
Change ist nicht gleich Change. Es ist wichtig von Beginn an zu unterscheiden mit welcher Art Vorhaben wir es zu tun haben. Für Herrn Brenner war es ein Sanierungsfall und für seinen Kollegen ein Reengineering-Thema. So kann jede Entscheidung mühsam werden, da die Annahmen auf der die weitere Vorgehensweise beruht, unterschiedlich sind.
In der Praxis sind unterschiedliche Einordnungen von Changeprojekten zu Beginn der Regelfall. Managementteams haben unterschiedliche Grundannahmen. Wenn Teams ihre unterschiedlichen Sichtweisen austauschen und dafür einen Rahmen wie die Change Landkarte nutzen, entwickeln sie ein viel differenzierteres Bild und eine solide Ausgangsbasis für ihre Entscheidungen.
Durch das Zusammenfügen der beiden Achsen Veränderungsnotwenigkeit und Veränderungsfähigkeit entsteht eine Matrix, die wir die Change Landkarte (© Heinz Jarmai) nennen. Sie ermöglicht uns unterschiedliche Arten von Veränderungsvorhaben zu unterscheiden.
Bevor wir uns in der Karte vertiefen wollen, soll die Logik der Landkarte erläutert werden.
Projekte, die sich unterhalb der Linie befinden sind Vorhaben, die die Effizienz steigern wollen. Es geht darum Dinge besser zu machen, den Arbeitsplatz sicherer zu machen, Angebote schneller rauszubekommen, die Dokumentation von Reparaturen durchgängig zu sichern. Es geht hierbei immer um Verbesserungen, was wir auch Veränderung erster Ordnung nennen.
Projekte in der oberen Hälfte bezeichnen wir als Veränderungen zweiter Ordnung, da der Veränderungsanspruch ein anderer ist. Hier geht es um radikale Änderungen, darum Dinge ganz anders zu machen. Bei Herrn Brenner wird in Zukunft der Innendienst standardisierte Aufträge selbst abwickeln können, und damit wird sich die Rollenaufteilung zwischen Innen- und Außendienst komplett verändern.
Veränderungen zweiter Ordnung beziehen sich auf die Art und Weise der Handlungen, die Rollenverteilung, das Selbstverständnis. Es ist wie eine Metamorphose, aus der Raupe wird ein Schmetterling. Veränderungen zweiter Ordnung sind für die Betroffenen aufregender, denn es steht mehr auf dem Spiel.
Eine Veränderung zweiter Ordnung kommt selten allein. Veränderungen zweiter Ordnung kommen im Paket und bewirken andere Veränderungen, die mitgedacht werden müssen. Wenn z.B. der Innendienst nun bestimmte Aufträge selber abwickeln kann (damit der Außendienst mehr Zeit beim Kunden verbringt), wird dies Auswirkungen auf das Prämiensystem für den Innen- wie für den Außendienst haben.
Teilt man die Landkarte in einer anderen Weise, ergibt sich folgendes Bild:
Alle Vorgehensweisen in der linken Hälfte haben einen programmatischen Charakter, d.h. es gibt ein Konzept, ein Modell des richtigen Vorgehens. Man weiß schon im Vorhinein was zu tun ist, was richtig ist. Nicht nur die Zielvorstellung auch das Modell ist in der Regel schon beim Start dieser Change Vorhaben vorhanden.
In der linken Hälfte hat sich eine Form der Steuerung als hilfreich herausgestellt, die wir als direkte Steuerung bezeichnen. Hier geht es darum, dass die oberste Führungsebene nahe am Change Geschehen ist und sich mit den Details der Veränderung vertraut macht. Die Feuerwehr hat eine klare hierarchische Entscheidungsstruktur, weil dies beim Einsatz hilfreich ist.
Im unteren linken Quadranten ist die positive Wirkung der direktiven Steuerung nicht gleich so ersichtlich. Schritte wie Sauberkeit am Arbeitsplatz, die exakte Dokumentation der aufgetretenen Unregelmäßigkeiten in der Nachtschicht, die laufende Wartung der Handbücher sind nur ein paar Beispiele, die zeigen, dass die Herausforderung der Veränderung hier nicht im einmaligen Tun liegt, sondern in der Beständigkeit. Wie schafft man es, dass diese Handlungen Teil der täglichen Routine werden?
In der rechten Hälfte unserer Landkarte wirkt die direkte Beteiligung der Führung oft störend. Hier gibt es noch keine Blaupause. Was richtig ist, entsteht erst im Gehen. Im Labor und bei den ersten Experimenten möchte man auch nicht den Vorstand dabei haben. Die frühe Aufmerksamkeit für das Detail kann die Entfaltung der Kreativität verhindern.
Führung hat bei dieser Art von Veränderung eine andere Funktion. Wir bezeichnen diese Form als kontextuelle Steuerung. Es geht darum den Rahmen bereitzustellen, Bedingungen zu ermöglichen (Personal, Ressourcen, Zugänge), und auch für den Schutz und die Ruhe zu sorgen, den diese Veränderungen brauchen.
Diese grundsätzlichen Unterscheidungen nutzend haben wir die Landkarte entwickelt. Jeder Ansatz hat seine Berechtigung, ein one size fits all, gibt es nicht. Für eine Verortung eines Changevorhabens, um das weitere Vorgehen zu entscheiden, hat uns die Landkarte unschätzbare Dienste erwiesen.