Wieviel Dynamik herrscht in selbstorganisierten Teams?
In unserer Arbeit als Berater:innen begegnen wir immer wieder der Annahme, dass in selbstorganisierten Teams mehr Gruppendynamik und Teamdynamik herrschen als in klassisch geführten Teams. Immerhin müssen diese Teams sich selbst organisieren ohne dass eine Führungskraft festlegt wo es langgeht. Ist das mit der Dynamik tatsächlich so oder nur einer der Mythen, die um Selbstorganisation und Agilität ranken? Genau das wollen wir in diesem Blogbeitrag näher beleuchten.
Bei einem unserer letzten Trainings fand genau zu dieser Frage ein spannendes Experiment statt. In einer Simulation musste ein Management Team aus lauter gleichgestellten Führungskräften entscheiden, welchen Kandidaten bzw. welche Kandidatin sie als Leiter bzw. Leiterin des Vertriebs und Teil ihres Teams einstellen wollten. Zur Auswahl standen 5 Personen, jede und jeder mit Vor- und Nachteilen. Alle mussten sich auf eine Person einigen.
Eine solche Situation ist durchaus alltäglich. Sie kennen vermutlich aus Ihrem eigenen Berufsleben zahlreiche Momente, in denen Sie in Ihrem Team gemeinsam zu einer Entscheidung kommen müssen. Wenn es in Ihrem Fall nicht die Bewerberin ist, dann vielleicht, wer wieviel vom Budgettopf bekommt oder wohin der Betriebsausflug geht.
Was in dem Experiment für uns deutlich wurde, waren die unterschiedlichen Wege, die während so einer Entscheidungsfindung gegangen werden können.
Eine Gruppe ging in dieses Meeting und jede Person begann ihre Position darzulegen, ihre Präferenzen kundzutun, auf ihren Standpunkt zu pochen. Moderation gab es keine. Es ging ja um Selbstorganisation ;-). Die Personen waren sehr auf sich und auf ihre Bedürfnisse und Sichtweisen bezogen. Ab und zu versuchte jemand zusammenzufassen was das Zwischenergebnis zu sein schien. Es gab Personen mit hohem Redeanteil, die das Ruder an sich rissen. Andere die sehr schweigsam waren. Jeder hatte seine eigene Strategie, sich in diesem Meeting Gehör zu verschaffen oder durchzusetzen. Nach Ablauf der Zeit gab es keine Entscheidung bzw. wurde diese vertagt. Die Personen gingen unzufrieden aus dem Meeting.
Kommt Ihnen dieses Szenario aus Ihrem Arbeitsalltag bekannt vor?
Die zweite Gruppe ging ganz anders an die Aufgabe heran. Eine Person ergriff das Wort gleich zu Beginn mit dem Vorschlag die Entscheidung anhand eines bestimmten Entscheidungsverfahrens (systemisches Konsensieren) herbeizuführen. Alle waren einverstanden und innerhalb von 15 Minuten gab es eine Entscheidung für einen Kandidat:innen, der den geringsten Widerstand der Gruppe hatte und somit auch den höchsten Grad an Zustimmung.
Im Nachgang stand die Frage im Raum, welche Art der Herangehensweise nun die bessere war.
Ist die Entscheidung eine bessere, wenn alle emotional mitdiskutieren oder wenn sie anhand eines Entscheidungsverfahrens rasch entsteht? Wie wichtig ist das eine oder das andere, um zu guten Entscheidungen zu kommen, die alle mittragen.
Aus unserer Sicht ist die Antwort auf diese Frage: Es kommt darauf an was ich erreichen möchte und wo daher mein Fokus liegt. Möchte ich etwas über die Dynamik des Teams erfahren und das Team entwickeln, ist die erste Variante hilfreich. Möchte ich zu einem schnellen ersten Ergebnis kommen, die zweite Variante.
Die beiden unterschiedlichen Wege könnten wir mit: „Fokus auf den Prozess“ oder „Fokus auf das Ergebnis“ beschreiben.
Ist der Fokus auf dem Prozess, so liefert die Dynamik und das prozesshafte, unstrukturierte Meeting interessante Einblicke. Im Sinne des Teambuildings und der Auseinandersetzung miteinander ist diese Herangehensweise sicher aufschlussreicher. Kennenlernen wird ermöglicht und im Nachgang kann man nochmal reflektieren, wer hier mehr Einfluss nimmt, welche Kommunikationsstile wer pflegt und es kann durch einen intensiven Austausch auch Vertrauen zueinander aufgebaut werden (wenn dieser gelingt).
Soll ein schnelles erstes Ergebnis erzielt werden, wirkt die Prozessdynamik eher „störend“.
Im Sinne der Entscheidungsfindung und des Vorankommens ist ein anderer Fokus hilfreicher. Hier werden eigentlich zwei Entscheidungen getroffen. Die erste für ein Entscheidungsverfahren, sobald dies eingesetzt ist, übernimmt das Verfahren die Führung. Dann geht es nicht mehr um die persönlichen Empfindungen und eigene Bedürfnisse werden zurückgehalten. Ich ordne mich dem Verfahren unter und gebe Macht ab. Führung erfolgt dann durch das Entscheidungsverfahren, nicht durch eine Person. Dabei spielt es keine Rolle, wie gut ich mich mit den anderen verstehe oder wie hoch meine Kommunikationsfähigkeit ist. Das Verfahren steht im Zentrum.
Diese beiden verschiedenen Ausrichtungen finden in Wirklichkeit immer gleichzeitig statt. Zu jedem Ergebnis gehört auch ein Prozess.
Den Unterschied macht hier die Dynamik und wie viel Raum sie bekommt.
Vor allem in selbstorganisierten Teams ist wichtig zu wissen, wann die Teamdynamik Raum bekommen soll und wann nicht. Zum Beispiel ist in den holakratischen Governance oder Tacitical Meetings wenig Raum dafür. Hier geht es darum eine nächste mögliche Entscheidung zu treffen – sie muss noch nicht perfekt sein, aber „safe enough to try“.
Dafür gibt es viel Raum für Teamdynamik in Formaten wie Tribe Space oder in der eigenen Reflexion über die aktuelle oder angestrebte Position und das eigene Verhalten im Team.
Genau dieser präzise Umgang mit Teamdynamik und das Wissen, wann sie Platz bekommt und wann nicht, ist aus unserer Sicht ein essentieller Skill, der selbstorganisierte Teams befähigt rasch zu Entscheidungen zu kommen und an Geschwindigkeit und Klarheit zu gewinnen. Auch klassisch organisierte Teams können von dieser Klarheit profitieren. Das Modell der vier Spaces bietet eine hilfreiche Unterscheidung wo gerade der Fokus ist: auf individuellen Bedürfnissen und der Teamdynamik oder auf operativen oder organisationalen Entscheidungen. Hier ist auch wichtig zu unterscheiden, ob man sich gerade „im Spiel“ befindet oder an den Spielregeln arbeitet. Je nachdem wo Spannungen wahrgenommen werden, können sie dann zum richtigen Zeitpunkt passend adressiert werden.
In selbstorganisierten Teams ist somit oft weniger Dynamik in den Meetings sichtbar.
Wichtige Aspekte, die Gruppendynamik ausmachen: Zugehörigkeit (Bin ich drinnen oder draußen?), Einfluss (Wer hat hier Macht?) und Nähe und Distanz, werden dennoch verhandelt, vielleicht außerhalb der Meetings in informellen Gesprächen oder in dafür geeigneten Tribe Space Formaten.
Unsere Empfehlung ist daher, den Raum für den „Tribespace“ gut einzurichten, damit die Dynamiken dort ausreichend Platz finden können. Anna Jantscher hat basierend auf ihren Erfahrungen bei uns den „Rollenfreien Raum“ entwickelt. Hier sortieren wir in kleinen Gruppen vor, welche Spannungen in welchen Raum gehören.
Die Autorinnen:
Anna Jantscher ist Managing Partnerin bei Neuwaldegg und beschäftigt sich unter anderem intensiv mit Gruppendynamik und Circling.
Nicole Lauchart-Schmidl ist Netzwerkpartnerin der Beratergruppe Neuwaldegg und verstärkt ab Jänner das Neuwaldegger Berater:innen-Team.
Veranstaltungstipp:
Mehr dazu im nächsten Agilen Freiraum am 13. März 2020
Der Agile Freiraum ist ein Ein-Tages-Praxis-Workshop, der dem Experimentieren mit agilen Facetten dient. Jeder Agile Freiraum widmet sich einem speziellen Thema, z. B. Fehlerkultur oder diesmal den Dynamiken selbstorganisierter Teams. Anmeldungen sind bereits möglich! Weitere Informationen