Eine Kultur entwickeln, die Mitarbeitende gewinnt und hält. Geht das?
„Wir suchen händeringend nach neuen Mitarbeiter:innen. Erst letzte Woche ist wieder eine potentielle Kollegin nach dem ersten Monat gegangen, weil sie genug andere Angebote hat. Irgendwie fühlte es sich für sie nicht stimmig an. Ich verstehe es eh, uns hängt allen die Zunge raus … aber was können wir tun? Welche Kultur brauchen wir, die sowohl den aktuellen Mitarbeiter:innen Kraft gibt und Neue einlädt?“
Aktuell ein echter Dauerbrenner in Gesprächen mit dem Top-Management, in Workshops oder Führungskräfteentwicklungen. Und meistens wird noch etwas dazugestellt: das Gefühl, dass sich die Organisation für die Mitarbeitenden UND die Anforderungen am Markt anpassen muss, aber die aktuelle Organisationskultur gibt das noch nicht her. Wie können wir unsere Kultur für das, was wir brauchen, weiterentwickeln, ist die beherrschende Frage?
Lieber auf Komplexität als auf einfache Antworten setzen
Die häufigsten Ideen und Antworten denen ich begegne: Werteprozesse, Führungskräfteprinzipien, Mindset-Änderung oder Employer Branding. Jaaa, UND aus systemischer Sicht könnte es sein, dass dies zu kurz gegriffen ist. Wieso?
Ich hole tief Luft, um mein Gegenüber in meine Welt einzuladen: den systemischen Blick auf Kultur. Die, die mich kennen, wissen, dass mir Eines besonders wichtig ist: Lieber umarme ich die Komplexität, als einfache Lösungen auf komplexe Probleme zu finden, die nicht wirken. Denn Kultur in Organisationen sind genau das: komplex.
Am meisten fällt mir dabei auf, dass der Eindruck entsteht, Kultur könnte verordnet werden. Aber Kultur ist, laut Luhmann, die geronnene Erfahrung einer Organisation und das Ergebnis ihrer nicht-entschiedenen Entscheidungen. Das heißt:
- Kultur ist sowohl die informelle Seite der Organisation, auf die man nicht direkt zugreifen kann
- und sie bezieht sich auf die erfolg- und hilfreichen Praktiken der Vergangenheit.
Hier ein kleiner Vergleich: Stellen Sie sich vor, ich sage Ihnen, Sie sollen ab morgen ein:e komplett andere:r sein: andere Werte, andere Haltung, andere Verhaltensweisen. Werden Sie das machen bzw. wird das funktionieren? Nein. Zum Glück! So leicht sind wir Menschen nicht steuerbar. Und so ähnlich ist es bei Organisationen: Sie haben zum Glück eine stabile Kultur, die sich immer wieder mitentwickelt, in dem wie und was man tut. Und was ist dabei effektiver und energiesparender als die bereits bekannten Muster und Erfolgsrezepte zu wiederholen?! Und das ist auch die Schattenseite: Wie kann so etwas Unbewusstes und Stabiles verändert werden, damit es den Anforderungen der Zukunft entspricht?
Das systemische ABC für Kultur
Was ist überhaupt Organisationskultur?
Der vor kurzem verstorbene Experte Edgar Schein beschreibt Unternehmenskultur als die „tiefer liegenden Muster von Annahmen, Überzeugungen, Normen und Werten“, die eine Organisation prägen und ihre Mitglieder beeinflussen. Es ist wie bei einem Eisberg: Nur wenig ist sichtbar und angreifbar, der viel größere Teil liegt unter der Wasseroberfläche und geht tief hinunter.
Aus systemtheoretischer Sicht gibt es noch eine weitere Perspektive, die am leichtesten mit dem Neuwaldegger Dreieck zu erklären ist. Wenn Organisation aus Kommunikation und abertausenden Entscheidungen entstehen und man diese verändern will, stellt sich die Frage, wie darauf Einfluss genommen werden kann.
Luhmann beschreibt 3 Metaprämissen:
- Programme:
Ziele, Strategien, Purpose, Leitlinien, Vision geben Entscheidungen Orientierung und richten sich danach aus. - Personal:
Fähigkeiten, Kompetenzen, Rollen, die Personen mitbringen machen einen Unterschied bei Entscheidungen. - Kommunikationswege:
Welche Aufbau- und Ablauforganisation haben wir? Wie fließt hier Kommunikation? Welche Meeting-Struktur haben wir und wie wirkt z. B. die IT-Infrastruktur.
Wer versucht Organisationen zu entwickeln, orientiert sich am besten an diesen Metaprämissen und achtet auch darauf, wie diese aufeinander einzahlen. Wie Sie an der Grafik erkennen, steht die Kultur in der Mitte. Weshalb? Auf Kultur kann eben nicht direkt zugegriffen werden. Wir sagen „Kultur kann nur über die Bande angespielt werden“, über diese drei Metaprämissen. Das heißt konkret, es geht um die Praktiken, die erlebt werden und die auf die Kultur einwirken.
Aber was kann ich jetzt konkret tun? Und wie zahlt das auf die Zukunft ein?
Schon in unserem Buch „Moving Organizations“ weisen wir auf die Herausforderung in der Bearbeitung von Kultur hin. Auf der einen Seite ist es ein langfristiges Unterfangen und gleichzeitig braucht es viel Disziplin und Durchhaltevermögen um dran zu bleiben.
Hier ein paar Zutaten, die aus unserer Erfahrung besonders wichtig sind:
- Fokus: Was ist das Problem und was soll gelöst werden?
Da Klarheit zu haben und dieses konkret benennen zu können, ist das Um-und-auf. Zum Beispiel kann es darum gehen, sowohl die Bedürfnisse des Unternehmens als auch die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen zu berücksichtigen, um Mitarbeitende zu halten und gleichzeitig Innovationskraft und Kreativität zu fördern. - Achtsamkeit: Kultur unter Beobachtung halten
Was liegt unter dem Eisberg? Welche mentalen Muster und Glaubenssätze leiten uns? Welche Ansprüche, Widersprüche, Zusammenhänge und Wechselwirkungen erleben wir, wenn es um Mitarbeitende geht? Was davon ist funktional und was auch dysfunktional, wenn wir auf unser Zielbild schauen? - An der Führungskultur arbeiten
Die Art der Führung hat einen besonderen Einfluss. Wahrscheinlich kennen Sie den Spruch „Mitarbeitende verlassen nicht Unternehmen, sondern Führungskräfte“. Eh klar, sie repräsentieren die Organisation, bei ihnen manifestiert sich alles. Deshalb gilt, wer an Kultur arbeiten möchte, muss Führung stark involvieren, vor allem das Top-Management. Wie sieht diese aus und worauf zahlt diese ein? Was heißt bei uns Führungsleistung und wie erkennen wir diese? - Das Neuwaldegger Dreieck zum Übersetzen in die Praxis nutzen
Wie können wir unsere Erkenntnisse in die Entscheidungsprämissen übersetzen? Welche Gebote, Verbote, neuen Räume und Strukturen braucht es, damit nachhaltige Veränderung möglich wird? Woran werden wir das auch erkennen und messen?
Beispiel: Praktiken etablieren, die auf das NEUE einzahlen
Neue Muster zu etablieren braucht Zeit und kann anstrengend sein. Das ist nicht nur auf der individuellen Ebene so (wenn es z. B. um Sport geht), sondern auch bei Organisationen. Deshalb braucht es Teams und genügend Praktizierende, damit sich ein neuer Habitus etablieren kann. Wir haben mit unterschiedlichen Formen gute Erfahrungen gemacht. In einer Organisation haben wir einen OKR-Prozess für Innovation etabliert, in dem crossfunktionale Teams gebildet wurden. Gleichzeitig waren die Führungskräfte in einem ITC (Immunity to Change)-Prozess involviert und haben intensiv an ihren Entwicklungszielen gearbeitet. Das Ziel war klar: Eine Kultur, die Mitarbeitende involviert und ihre Bedürfnisse ernst nimmt und gleichzeitig adaptiver und agiler wird. Die These war: Wenn das klappt, dann werden das neue Mitarbeitende spüren und ganz einfach bleiben wollen. Obwohl wir wussten, dass dies nicht von heute auf morgen alles passieren wird: Nach einer intensiven Phase waren erste Ergebnisse schon nach 10 Monaten spürbar! Das war natürlich sehr cool und hat motiviert! Und dann heißt es: Dran bleiben! Nichts passiert schneller, als beispielsweise in einem Krisenfall wieder in alte Muster zurückzufallen! Kulturentwicklung muss als ein dynamischer Prozess verstanden werden. Dabei hilft es aus unserer Sicht auch, auf Partizipation, Lernen und Vertrauen zu setzen. Dann wird’s auch was mit den Mitarbeiter:innen und einer agileren Spielweise.
Es gibt ganz viele unterschiedliche Wege, um mit Kultur zu arbeiten und diese sind auf die Fragestellung und die Organisation gut abzustimmen. Wichtig ist mir an dieser Stelle nochmal (sorry, ich erlebe es ganz einfach zu oft), nicht zu glauben, dass ein Werteprozess den einen großen Unterschied macht und die Kultur maßgebend verändert. Wenn, kann eine solche Intervention maximal ein Startschuss sein. Viel wichtiger ist es, aus meiner Sicht, zu klären, was das Ziel ist und von einer guten Kulturanalyse weg zu starten: Um was geht es uns hier? Was wollen wir neu lernen? Woran werden wir das neue Verhalten erkennen? Die echte Arbeit entsteht danach im Tun! Und dann wird es besonders spannend!
Welche Fragen beschäftigen Sie gerade, wenn es um Kulturentwicklung geht? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Wie immer neugierig, freue ich mich auf Ihre Perspektive ☺️
Über die Autorin
Barbara Buzanich-Pöltl ist Beraterin und Equity Partnerin bei Neuwaldegg. Sie ist Mitgestalterin des Agile Leadership Campus, Co-Programmleiterin des Change Campus, Programmleiterin unseres Gender Equality Labs und des Workshop-Formats Agiler Freiraum, das dem Experimentieren mit agilen Facetten dient. Außerdem ist sie Keynote-Speakerin. Neben ihrem Herzensthema Gender Equality bewegen sie vor allem die Themen Agile Organisation, Agile Transformation und Purpose und Strategie. Dazu hat sie auch mit Frank Boos das Buch „Moving Organizations“ geschrieben.
Weiterbildungstipp: Agile Leadership Campus, ab 14. Juni 2023
Das Neuwaldegger Programm für Leadership in einer agilen Welt. Die Weiterbildung ist bunt und interaktiv und richtet sich explizit an Führungskräfte, an Geschäftsführer:innen und Manager:innen. Sie vertiefen Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten zu Agilen Methoden, Führung und Transformation. Dabei achten wir auf eine gute Kombination aus theoretischem Wissen, methodischen Anregungen und praktischen Übungen. Neben dem konkreten Handwerk und der Theorie arbeiten wir an der Haltung und der Integration in Ihre persönliche Arbeit als Führungskraft. Dies gelingt maßgeschneidert, da Sie durch die Potenzialanalyse konkrete Lernchancen ergreifen und ihren individuellen Entwicklungsweg im Coaching bestärkt setzen und gehen.