Führung im Kontext des Spotify Modells
Durch Agile Transformationen und Selbstorganisation werden Macht und Führung nicht aus der Welt geschafft, sie müssen nur neu betrachtet und verhandelt werden. Für Organisationen und Führungskräfte bedeutet dies ein hohes Maß an Unsicherheit. In unserer Serie „Führung im Kontext Agiler Methoden“ wollen wir auf die bekanntesten Agilen Frameworks, Methoden und Ansätze eingehen und deren Implikationen auf Führung und Führungskräfte aufzeigen. In Teil 4 widmen wir uns dem Spotify Modell.
Das Spotify Modell ist kein Modell
Das Spotify Modell ist derzeit in aller Munde und wird als eines der bekanntesten Agilen Skalierungsmodelle gerne … Stopp! Nein, wir wollen hier von Anfang an Klartext reden: Es gibt kein Spotify Modell! Denn das Spotify Modell ist vieles aber eben kein Modell! -
Spotify ist ein schwedisches IT Start-Up, das in den späten 2000er Jahren angetreten ist, die Musikwelt zu revolutionieren. Seit damals arbeiten unzählige Softwarespezialist:innen daran, das bestmöglichste Musikerlebnis auf unsere Handys zu zaubern, und das ist natürlich eine große Herausforderung. Um dieser zu begegnen haben die Software-Magier bei Spotify nicht nur an ihrem technischen Zauberkasten gearbeitet, sondern auch die Organisation der Arbeit immer wieder an ihre Bedürfnisse angepasst. Dieses hoch spezialisierte und genau an die Gegebenheiten von Spotify angelehnte Modell wurde 2014 von einem (damals) internen agilen Coach, Henrik Kniberg, in zwei kurzen animierten Videos beschrieben und veröffentlicht. Und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte …
Wenn Sie also in einem Start-Up arbeiten, das Software produziert, als Pionier Musikstreaming am Markt anbietet, in Schweden beheimatet und auf Wachstum ausgelegt ist, dann – Gratuliere! – ist das Spotify Modell für Sie. Für alle anderen: Vorsicht, das sogenannte Spotify Modell ist eine konkrete Antwort auf eine konkrete Situation, die nicht 1:1 in Ihren Kontext übertragbar ist.
Damit möchte ich nicht sagen, dass das Spotify Modell nicht hilfreich sein kann. Ganz im Gegenteil, es stecken sehr schöne und spannende Gedanken und Konzepte dahinter. Zwei davon werden wir gleich genauer betrachten. Aber es ist eben kein Modell, sondern eine konkrete Umsetzung. Und da kann man sich inspirieren lassen, es adaptieren oder sich interessante Details herausnehmen, aber es lässt sich eben nicht ohne entsprechende Überlegungen einführen.
Spotify is „Loosely Coupled“
Die wohl bekannteste Eigenschaft des Spotify Modells ist die Organisationsstruktur, bestehend aus Tribes, Squads, Chapters und Guilds. Und da steckt auch schon der erste Stolperstein für Organisationen und Führungskräfte: Die genannten Begriffe sind nicht einfach nur neue Namen für bestehende Ansätze und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Organisationselemente ist nicht nur eine andere Form einer traditionellen Matrix-Organisation, sondern es ist so viel mehr …
Screenshot aus dem berühmten Spotify Engineering Culture Video mit dem Organisationsdesign
Ein Grundgedanke aller teamorientierten agilen Ansätze, Scrum sei hier beispielhaft genannt, ist der Wunsch möglich autonom agieren zu können. In der Idealvorstellung haben wir ein Team, dass alle Anforderungen ohne Abhängigkeiten von außen umsetzen kann. Unsere Kundin hat eine neue Anforderung? Machen wir doch gerne! Müssen wir dazu jemand anderen fragen? Nein! Können wir daher eine verbindliche Zusage machen? Absolut!
Spotify hat diese Autonomie auf die Spitze getrieben. Wenn wir heute auf die Spotify App auf unserem Mobilgerät schauen, so sehen wir dahinter eigentlich unabhängige Apps, welche bis in die tiefsten Niederungen der Technologie getrennt sind. Die Abspielfunktion ist eine eigenständige App, welche keinerlei Verbindung zur Playlist-App hat, welche wiederum nichts mit der Such-App zu tun hat, und so weiter. Und diese Trennung ist auf allen technischen Ebenen, wie etwa Datenbanken oder Schnittstellen, aber auch organisatorisch, eine konkrete Funktionalität ist einer Squad zugeordnet, konsequent durchgezogen. Damit kann eine Squad Änderungen und Neuentwicklungen an ihrem Teil ohne Abstimmungs- oder Koordinationsaufwand umsetzen, ganz ohne Angst vor Kollateralschäden oder Integrationsaufwänden.
Und hier steckt der erste Lerneffekt für Organisationen und Führungskräfte: Haben Sie den Mut Ihre Organisation an ihre Wertströme anzupassen. Schaffen Sie ein Umfeld, dass es den Teams ermöglicht erfolgreich zu sein und rasch auf ändernde Bedingungen zu reagieren. Haben Sie dabei keine Angst auch heilige Kühe anzufassen und sorgen Sie für eine lose Koppelung ihrer Tribes und Squads.
Konkret können dies Prozesse, Vorlagen, Controlling Mechanismen oder IT Systeme sein. Und der Schlüssel dabei ist in Wertströmen zu denken und Teams crossfunktional (als Gegenentwurf zur heute weit verbreiteten Kompetenzorientierung der Abteilungen) zusammenzustellen. In einer Squad könnten also Umsetzer:innen neben Verkäufer:innen sitzen, dazu Entwickler:innen, welche die Dinge in IT Systemen umsetzen, und Personen aus der Finanzabteilung, welche die kommerzielle Seite bearbeiten. Oder ganz etwas Anderes? 😊
Und ja, oft ist es – gerade in größeren Konzernstrukturen – nicht möglich alle Strukturen zu entflechten, aber die Grundhaltung dahinter ist eine hilfreiche Haltung. Denn dadurch schaffen wir ein Team, dass das Gefühl hat, das eigene Schicksal selbst in der Hand zu haben und eigenständig für seinen Erfolg verantwortlich zu sein. Und um dorthin zu kommen, reicht es manchmal auch, einfach das eine oder andere Abstimmungsmeeting abzusagen oder interne Prozesse leicht anzupassen.
Aber gleichzeitig „Tightly Aligned“
Die lose Koppelung der Squads bringt enorme Vorteile auf Organisationsebene, insbesondere in Bezug auf die Reduktion notwendiger Abhängigkeitsabklärungen und Koordinationsaufwände. Doch es werden auch sehr bald neue zusätzliche Herausforderungen aufkommen – und hier kommen die Tribes, Chapters und Guilds ins Spiel.
Damit lose gekoppelte Teams in einem Organisationsverbund funktionieren, brauchen sie eine starke Abstimmung. Spotify nennt das „Loosely Coupled, Tightly Aligned“. Die Expert:innen in den Squads sollen besser werden, indem sie an ihren Kompetenzen arbeiten und Erfahrungen Squad-übergreifend austauschen? Chapters! Die Squads sollen einer gemeinsamen Strategie folgen und sich miteinander abstimmen? Tribes! Es sollen grenzübergreifend neue Themen erarbeitet und Erfahrungen ausgetauscht werden? Guilds!
Ein weiterer Screenshot aus dem Spotify Video. Obwohl alle Squads ihr eigenes Instrument spielen, hören sie alle die gleiche Musik.
Auch hier soll die Aufteilung von Spotify nur als Orientierungshilfe gelten. Welche Chapters, Guilds und Co. es gibt und welchen Purpose sie erfüllen, hängt von Ihrem Kontext ab und sollte maßgeschneidert erarbeitet werden. Und lassen Sie sich dabei nicht vom Spotify Modell einschränken! Wenn Sie weitere Abstimmungs- und Koordinationsbedarfe haben, warum nicht auch noch Crews, Units oder Brigades einführen?
Ständig in Bewegung
Es stecken so viele interessante Aspekte im Spotify Modell, sie alle zu betrachten würden diesen Rahmen sprengen. Was aber herausragt ist, dass all die gefundenen Ansätze genau auf die Herausforderungen von Spotify zugeschnitten waren und mutig ausprobiert worden sind. Natürlich sind sie auch oft genug auf die Nase gefallen. Aber sie haben sich immer wieder ehrlich die Frage gestellt was es gerade braucht und nicht davor zurückgeschreckt neue Dinge auszuprobieren und einen eigenen Weg zu gehen. Und das ist es, was wir eigentlich vom Spotify Modell lernen und mitnehmen sollten: Die Freude am Experimentieren und der stetige Wille zur kontinuierlichen Verbesserung.
Ein ehemaliger Kollege von mir hatte einmal das Vergnügen mit Vertreter:innen von Spotify persönlich zu plaudern. Sie haben ihm erzählt, dass sie bei Spotify amüsiert den Hype um ihr Modell betrachten, denn das was heutzutage unter diesem Deckmantel verstanden wird, hat kaum noch was mit dem zu tun wie die interne Organisation bei Spotify heute aussieht. Warum? Weil das, was sie vor fast 10 Jahren veröffentlicht haben, eine Antwort auf die Situation vor 10 Jahren war. Heute ist die Situation eine andere und damit ist ihre Antwort auch eine andere. Das Organisationsmodell hat sich laufend weiterentwickelt.
6 Tipps im Umgang mit dem Spotify Modell
Auch wenn das Spotify Modell nie als Modell gedacht war und deswegen in der Einführung mit viel Sorgfalt vorgegangen werden muss, so stecken viele tolle Ideen und Ansätze in der 2014 veröffentlichten Beschreibung der Spotify Kultur. Um diese erfolgreich umzusetzen und als Führungskraft im Kontext des Spotify Modells erfolgreich und wirksam zu sein, haben wir hier 6 Tipps für Sie zusammengestellt:
- Die Spotify Kultur ist geprägt von Offenheit, Neugier und Freude daran mutig Neues auszuprobieren. Der erste Schritt das Spotify Modell umzusetzen ist es Räume zum Lernen und zur Reflexion zu schaffen und Möglichkeiten zu bieten das Organisationsmodell laufend anzupassen.
- Agile autonome Teams sind der Grundbaustein des Spotify Modells. Schaffen Sie eine Umgebung, die es diesen Teams erlaubt erfolgreich zu sein. Sorgen Sie für eine lose Koppelung und räumen Sie organisationale Stolpersteine aus dem Weg.
- Wertströme und Crossfunktionalität sind die Schlüssel zu Autonomie. Betrachten Sie Ihre Organisation und identifizieren Sie, welchen Wert sie wie in Ihrer Organisation erbringen. Lösen Sie sich von Kompetenz- und Hierarchiegrenzen und stellen Sie sich die Frage, wie ein crossfunktionales Team aussehen könnte, das diesen Wert autark erbringen kann.
- Sorgen Sie für ausreichend Austausch- und Abstimmungsformate, um sicherzustellen, dass die Teams strategisch ausgerichtet und gut koordiniert sind und über Organisationsstruktur-Grenzen hinweg Erfahrungen austauschen und Neues entstehen kann.
- Lassen Sie sich von Chapters, Tribes und Co. inspirieren, aber finden Sie Ihre eigene Organisationssprache. Haben Sie keine Angst – wenn notwendig – weitere Organisationselemente zu etablieren und diesen neue Namen zu geben. Vor Spotify hatte auch noch niemand von Guilds gehört.
- Verlieben Sie sich nicht in Ihr Organigramm. Spotify hat das auch nicht. Wie in diesem spannenden Artikel eines ehemaligen Spotify Mitarbeiters beschrieben, verwendet Spotify das Spotify Modell nicht mehr. Finden Sie ein Modell, das für Sie passt und das in Ihrer aktuellen Situation hilfreich ist. Evaluieren Sie ständig neu und werfen Sie auch liebgewonnene Dinge über Board, wenn sie nicht mehr hilfreich sind.
Über den Autor
Gregor Habinger ist Neuwaldegger Berater und Agile-Experte. In dieser Blog-Serie widmet er sich jedes Mal einem anderen kniffligen Thema rund um Agiles Arbeiten & Führung. Er nutzt dafür seine langjährige Erfahrung in der Begleitung agiler Transformationen, seine eigenen Erfahrungen im agilen Arbeiten und seine Expertise als Führungskraft im IT-Bereich.
Weiterbildungstipp: Agile Leadership Campus, ab 14. Juni 2023
Das Neuwaldegger Programm für Leadership in einer agilen Welt. Die Weiterbildung ist bunt und interaktiv und richtet sich explizit an Führungskräfte, an Geschäftsführer:innen und Manager:innen. Sie vertiefen Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten zu Agilen Methoden, Führung und Transformation. Dabei achten wir auf eine gute Kombination aus theoretischem Wissen, methodischen Anregungen und praktischen Übungen. Neben dem konkreten Handwerk und der Theorie arbeiten wir an der Haltung und der Integration in Ihre persönliche Arbeit als Führungskraft. Dies gelingt maßgeschneidert, da Sie durch die Potenzialanalyse konkrete Lernchancen ergreifen und ihren individuellen Entwicklungsweg im Coaching bestärkt setzen und gehen.
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