Learning Journey 8/10: Drum prüfe, wer sich bindet
Neue Formen der Zusammenarbeit bei einem evolutionären Unternehmen
Startup-Feeling in Berlin-Kreuzberg bei EMPAUA. Große Räume, hohe Decken, viele Schreibtisch-Reihen, konzentriert Arbeitende vor Rechnern, Telefonkonferenzen und spontane Meetings in Sofaecken oder an der Kaffeemaschine. Mittendrin sitzen Nicklas, einer der sieben Gründer und „Holacracy Guru“ von EMPAUA, Max aus dem Vertrieb und Elena, die die Rolle „People & Culture“ mit Leben füllt.
EMPAUA—im Überblick
EMPAUA wurde 2014 in Berlin gegründet und berät Organisationen bei der Einführung von salesforce.com als CRM-Lösung. EMPAUA ist an fünf Standorten (Berlin, London, Madrid, Barcelona & Zürich) tätig, hat aktuell 50 Mitarbeiter:innen und ist holakratisch organisiert (Mehr zur Organisationsform Holacracy lesen Sie hier).
EMPAUA betrachtet die eigene Organisation als lebenden Organismus und stellt Zusammenarbeits- und Organisationsformen in den Mittelpunkt. Der Mensch wird als Ganzes gesehen und die persönliche kontinuierliche Weiterentwicklung in den Fokus gerückt. Purpose, also höherer Zweck der Organisation ist es, die Führungskräfte von morgen zu entwickeln und eine der fortschrittlichsten Organisationen zu sein. Dazu gehört es, frühzeitige neue Geschäftsfelder zu identifizieren und entsprechend zu bedienen. Dies kann in Form von neuen Angeboten oder direkt als Ausgründung aus EMPAUA heraus geschehen.
Wir ziehen uns mit den Kollegen von EMPAUA in den Konferenzraum zurück und sprechen in den nächsten drei Stunden intensiv über das, was EMPAUA ausmacht. Nach drei gemeinsamen Stunden sind wir begeistert, wie konsequent die neuen Formen der Zusammenarbeit und Unternehmensgestaltung gelebt werden, die in der Literatur als „evolutionär oder als „TEAL“ bezeichnet werden. Wer sich mit TEAL noch nicht befasst hat, hier eine gute Videozusammenfassung.
Was zeichnet EMPAUA aus?
Neben der stringent holakratischen Steuerung machen ein ausgeprägter Fokus auf den Menschen und die persönliche Weiterentwicklung, die volle Transparenz aller Unternehmenszahlen in Echtzeit (Online-Cockpit), die Automatisierung vieler Prozesse mithilfe von Salesforce.com sowie die Personalauswahl bei EMPAUA einen klaren Unterschied.
Die volle Transparenz gibt die Möglichkeit, Meinungen und anstehende Entscheidungen anhand konkreter Datenpunkte zu validieren. Wir durften einen Blick in das Cockpit von EMPAUA werfen: mich fasziniert der Echtzeit-Überblick aller Unternehmenszahlen (Konten, Performance der Entwickler:innen, Gehälter, etc). Zugleich bin ich mir nicht sicher, wie ich selbst mit einer derart „brutalen“ Transparenz umgehen würde – ich merke, wie bei mir Anspannung entsteht.
Gleichzeitig spüren wir im Gespräch ein starkes Grundvertrauen auf den Organismus EMPAUA, dessen Existenz nicht von einer Person abhängig ist. Nicklas, einer der Gründer, zeigt sich entspannt: “Unser Organismus wächst und gedeiht. Sollte salesforce.com zukünftig weniger Relevanz haben, bin ich davon überzeugt, kurzfristig eine neue Nische zu besetzen, weil wir die richtigen Leute an Bord haben!“
Als „Betriebssystem“ hat EMPAUA Holacracy für sich angepasst und eingeführt (Näheres zum sozialen Betriebsmodell Holacracy lesen Sie im oben genannten Artikel). Aktuell wird ein Schulungsprogramm entwickelt, um das Verständnis von Holacracy bei bestehenden und neuen Mitarbeiter:innen zu vertiefen. Das Ziel: eine einheitliche Haltung und gemeinsames Verständnis zum Steuerungsmodell, dem dahinterliegenden Mindset und den konkreten Meetingformaten.
Das Unternehmen wächst. Wie schafft es das Unternehmen, dass die Grundüberzeugungen der Gründer erhalten bleiben? Wie können der Core Purpose und die TEAL-Ausrichtung langfristig Bestand haben?
Ein zentrale Antwort: EMPAUA fokussiert im Recruiting-Prozess auf den „Cultural Fit“ der Bewerber:innen. D.h. wie gut passen die Personen dieser speziellen Organisation inkl. gelebter Selbstorganisation? Der Prozess (s.u.) wirkt zunächst sehr umfangreich, vermeidet aber gleichzeitig Fehlbesetzungen und hat sich dadurch bewährt. Der Gedanke dahinter: mit den „richtigen“ Menschen an Bord entwickelt sich das Unternehmen in die richtige Richtung.
- Erster Check: Informelles Gespräch (zum Beispiel bei einem Mittagessen) um EMPAUA und das Betriebssystem (Holocracy / Teal) dazustellen, sowie die Motivation und grobe Gehaltsvorstellungen des Bewerbers herauszufinden.
Zentrale Frage: Sehe ich diesen Menschen als mögliches Teammitglied? - Motivation verstehen: Die Bewerber erhalten Informationen (Texte, Videos) zu Holacracy und Teal und die Aufgabe, Resonanz und eigene Gedanken dazu zu verfassen.
Zentrale Frage: Springt der Funke über? - Discovery Day incl. Meeting-Teilnahme: Bewerber:innen erhalten eine Case-Study bzw. einen Coding-Test, den sie bearbeiten, nehmen an einem Meeting teil und führen drei weitere Interviews mit Vertretern des „Recruiting Panels“.
Zentrale Frage: Wer ist dieser Mensch, der zu uns kommen will (Persönlichkeit & Kompetenz) und passt ihm/ihr wie wir zusammenarbeiten? - Direktes Feedback: Die Vertreter des “Recruiting Panel” geben online ihr Feedback zum „Cultural Fit“, „Role Fit“ und „Skill Fit“ und Gehaltswunsch ab. Bewerber:innen erhalten dieses Feedback direkt zugesandt.
Zentrale Frage: Passen Selbst- und Fremdbild? Wie wird mit direktem Feedback umgegangen? - Gehaltswunsch: Bewerber:innen äußern in dieser Phase den Gehaltswunsch abhängig von der Rolle, Verantwortung, Arbeitszeitmodell etc. Bei Unsicherheiten unterstützt die Recruiterin, indem sie die Gehaltsbandbreite von Kolleg:innen mit einem ähnlichen Profil transparent macht. Da bei EMPAUA die Selbstorganisation im Vordergrund steht, kann jedes Teammitglied zu jeder Zeit eine Gehaltserhöhung oder –verminderung für sich selbst vorschlagen.
Zentrale Frage: Was ist ein passendes Gehalt für meine Rolle und passt es in das Gesamtgefüge? - Einwandsrunde: Das „Recruiting-Panel“ erhält den Gehalts- und Rollenwunsch. Gibt es keine Einwände wird der Vertrag ausgestellt. Gibt es Einwände, sucht der Facilitator ggfls. unter Einbindung des:r Bewerbers:in nach Integration.
Zentrale Frage: Besteht ein „Fit“ bzgl. Gehalt & Rolle(n)?
Neue Mitarbeiter:innen werden im Rahmen der Onboarding-Woche intensiv begleitet, um Holacracy und die unterschiedlichen Meeting-Formate zu verstehen. Regelmäßiges Rollen-Feedback (für alle Mitarbeiter:innen) erfolgt alle 3–5 Monate. Darüber hinaus gehört es zur EMPAUA Kultur, Spannungen frühzeitig anzusprechen und zu lösen bevor sie zu Konflikten werden. Max ist an dieser Stelle klar: „Die Spannung ist ohnehin vorhanden, warum also nicht gleich prozessieren. Spannungen treten bei menschlicher Interaktion immer auf, wir betrachten sie als etwas Positives. Sie tragen zur persönlichen und zur organisationalen Weiterentwicklung bei!“
Klare Rollen und Verantwortlichkeiten unterstützen bei EMPAUA selbständiges Arbeiten. Entscheidungen, die über die eigene Rolle hinausgehen und andere Rollen oder Domains (= definierter Entscheidungsbereich einer Rolle) tangieren, werden durch einen klar definierten Beratungsprozess („advice process“) unterstützt.
Der Beratungsprozess sieht bei anstehenden Entscheidungen eine Konsultation mit betroffenen Rollen und/oder Expert:innen vor. Idee ist es, durch den Perspektivwechsel und die Nutzung der kollektiven Intelligenz eine bessere Entscheidung zu treffen. Gleichzeitig gilt hier das Konsent-Prinzip, d.h. der Rat der anderen muss gehört werden, allerdings nicht notwendig befolgt werden. Der:die Entscheider:in hat volle Verantwortung für die Entscheidung und die daraus resultierenden Konsequenzen. Gleichzeitig besteht auch die Freiheit, Entscheidungen, die sich in der Praxis nicht bewähren, zurück zu ziehen. Dieses Vorgehen beschleunigt Entscheidungen. Die damit geschaffene Entscheidungs- und Fehlerkultur zahlt auf die Weiterentwicklung der Personen und der Organisation ein.
Unser Fazit
EMPAUA lebt Aspekte von TEAL täglich: Das Menschenbild, die positive Bewertungen von Spannungen und die daraus resultierende Chance, sich weiterzuentwickeln. Der Recruiting-Prozess stellt sicher, dass Menschen in die Organisation kommen, die zu EMPAUA passen. Das Zutrauen zu jedem:r Mitarbeiter:in zeigt sich im Gehaltsfindungs- und Anpassungsprozess, im Beratungsprozess („Advice Process“) in der Entscheidungsfindung, sowie in der unbegrenzten Anzahl der Urlaubstage. Die Kreativität bei aufkommenden Problemen (Sense & Respond) wird sichtbar z.B. in der Vernetzung der Mitarbeiter:innen über die Standorte hinweg über eine interne AirBnB-Plattform („Ich bin beruflich/privat in Barcelona, wer hat ein Bett für mich?“). Das Thema Echtzeit-Transparenz und die Automatisierung vieler Unternehmensprozesse mit salesforce.com hat uns inspiriert, die Einführung einer ähnlichen Lösung für uns selbst zu prüfen.
Was können Sie für Ihr Team, Ihren Bereich, Ihre Organisation daraus lernen?
- Wie stellen Sie sicher, dass die Menschen, die bei Ihnen einsteigen, auch zu Ihrem Unternehmen passen? Prüfen Sie Ihren Rekrutierungsprozess—welche Fragen wollen Sie in den einzelnen Stufen klären?
- Wie stellen Sie sicher, dass neue Mitarbeiter:innen gleich von Beginn an den Geist Ihres Unternehmens spüren können? Wie beginnen neue Mitarbeiter:innen bei Ihnen?
- Wie sichern Sie, dass wesentliche Zahlen im Unternehmen transparent sind?
- Wie (schnell) werden bei Ihnen Entscheidungen getroffen? Welches Prinzip gilt bei der Entscheidungsfindung, konsens oder konsent?
- Wie schaffen Sie es, dass aus den alltäglichen Spannungen keine Konflikte sondern Entwicklungsimpulse werden?
- Wie können Sie Ihr Steuerungsmodell – insbesondere die Meetings weiter in Richtung Wirksamkeit entwickeln?
Sie wollen mehr zu TEAL-Organisationen lesen? Der Besuchsbericht der Firma Soulbottles im Rahmen dieser Learning Journey könnte Sie auch interessieren. Haben Sie schon den Newsletter der Beratergruppe Neuwaldegg abonniert? So verpassen Sie keinen Artikel mehr.
Autor
David Jeggle Dipl. Betriebswirt und systemischer Organisationsberater bei der Beratergruppe Neuwaldegg mit dem Schwerpunkt Strategie, Change und Führung.