Seh’ ich, seh’ ich … was Du nicht siehst?
Erfolgreiche Potenzielerkennung
Ein Gastbeitrag von Mag. Monika Dickinger-Steiner in HR times,
Ausgabe 2 – Dezember 2016
Fragt man Organisationen, was sie erfolgreich macht, höre ich oft: „Meine Mitarbeiter, meine Führungskräfte“. Sie sagen nicht: „Meine blonden Verkäufer, meine gutaussehenden Techniker, meine männlichen Führungskräfte“. Sie schauen auf ihre ganze Mannschaft.
Als Denkanstöße wollen die folgenden drei Beispiele dienen, die vom Mut machen, vom auf alle Potenziale schauen und vom diese Potenziale nutzen handeln:
- Die Nachbesetzung
Der Personalleiter eines Unternehmens will die Organisation verlassen. Es wird ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gesucht. Der vielversprechendste Kopf der Abteilung ist eine junge Frau—Akademikerin, mehrsprachig, klug, engagiert. Sie ist seit 8 Monaten im Unternehmen. Man fragt sie. Ihre Reaktion– Zögern, Unsicherheit, Selbstzweifel: „Kann ich das? Bin ich schon erfahren genug?“ „Kenne ich das Unternehmen gut genug?“ „Bin ich ausreichend qualifiziert?“ Nach reiflicher Überlegung lehnt sie ab. Einige Monate später muss sie völlig enttäuscht feststellen, dass der statt ihr eingestellte männliche Kollege—jetzt ihr Vorgesetzter—bei weitem nicht ihr Wissen und ihre Erfahrung hat. Sie kündigt. Wie wäre das anders zu lösen gewesen? - Die „Beisitzerin“
Im Produktionsunternehmen gibt es ‚seit immer‘ auf allen Führungsebenen ausschließlich männliche Vertreter. Der laufende Veränderungsprozess wird, durchaus erfolgreich, von einem externen Expertenteam, einer Beraterin und einem Berater, begleitet. Nach mehreren Projekt- und Management-Meetings im Rahmen des Projekts, tritt die Geschäftsführung mit einer ungewöhnlichen Bitte an die Beraterin heran: „Können Sie in nächster Zeit an all unseren Management-Meetings teilnehmen: Wenn Sie anwesend sind, können wir besser miteinander arbeiten. Wir hören einander besser zu, lassen einander ausreden, und schreien uns nicht an.“ Eine ungewöhnliche und teure Lösung—wäre das nicht auch aus dem Unternehmen selbst lösbar?” - Im Projekt
Sei nicht so ‚emotional‘ ist das, was die junge Frau im Projekt-Team von ihren Kollegen und ihrem Vorgesetzten hört. „Du musst härter sein“, „Du darfst nicht so empfindlich sein“. Und obwohl ihr oft gesagt wird „was sie nicht sein soll“, ist gleichzeitig sie es, die gebeten wird, bei allen schwierigen Gesprächen mit dem überaus fordernden Kunden dabei zu
sein—oder auch die Kommunikation an alle beteiligten und betroffenen Anwender noch mal durchzusehen, weil man sonst mit Widerständen rechnet. Irgendwie findet sie in schwierigen Situationen „den richtigen Ton“ heißt es von ihr. Ist es also doch eine Stärke, Emotionalität, Sensitivität und Empathie zur Verfügung zu stellen?
Es gibt viele solcher Beispiele – fast jeder kennt sie – vom Erleben oder auch vom Hörensagen. Was sie zeigen ist, dass Frauen und Männer verschiedene Stärken in ihren Arbeitsalltag mitzubringen scheinen. Gleichzeitig wirkt es manchmal, als hätten viele Frauen noch nicht erkannt, dass ihre Fähigkeiten tatsächlich Stärken sind, vor allem, wenn sie in den eigenen Organisationen nicht explizit als solche benannt werden. Vorausblickende Unternehmen setzen alles daran, die Stärken aller Mitarbeiterinnen und aller Mitarbeiter so gut wie möglich zu nutzen, um erfolgreich am Markt zu sein, und die vielfältigen externen und internen Herausforderungen zu meistern.
Was es braucht, damit dieser Anspruch gelingen kann und was Nachwuchs-talente benötigen, die neu in ihre erste Führungsposition gerufen werden, beschreiben die folgenden Szenarien.
- Vom Balkon auf die Trainerbank
Junge Führungskräfte brauchen Vorgesetzte, Mentoren, Menschen, Personalisten, die wirklich (!) daran interessiert sind, dass „die Jungen“ erfolgreich sind; die wollen, dass es gut klappt, die als Sparringpartner und als Mentoren zu Gesprächen bereit stehen; alles daransetzen, dass er oder sie seine:ihre ersten und die folgenden Schritte sicher setzen kann. Ein Zusehen von der Tribüne‚ jetzt schauen wir mal, wie sie (oder auch er) sich tut—ob sie (oder auch er) hier überlebt, ist wenig hilfreich. - Ein „gesundes“ Selbstbewusstsein
(Junge) Schlüsselkräfte brauchen Feedback über ihre Performance, ihr Verhalten, ihre Kommunikation, etc. Einerseits, um zu lernen und um Vertrauen in die eigenen Stärken und Ressourcen zu bekommen, andererseits, um eigene Lernfelder zu erkennen. Zu wissen, was man gut kann, gibt Sicherheit und Selbstvertrauen. Zu wissen, wo noch Lernfelder
sind, hilft seinen eigenen Platz zu finden und sich zu entwickeln. Falsche Bescheidenheit und Unklarheit sind – ebenso wie überzogene Selbstsicherheit ohne Erdung – wenig hilfreich. - Möglichkeiten des „angstfreien“ Austauschens
Sich über Herausforderungen, gemeisterte Schwierigkeiten oder bevorstehende Hürden mit anderen ohne Angst vor Gesichtsverlust
oder Sanktionen austauschen zu können, ist eine wichtige Basis. Von anderen Lernen, aber auch anderen eigene lehrreiche Erfahrungen
berichten, stärkt und unterstützt die Klarheit über sich selbst. Dass das Streben nach Perfektion und der 100 % Lösung oft nicht zielführend ist, kann meist nur im offenen Gespräch mit anderen, die in vergleichbaren
Situationen sind, erarbeitet werden.
Schauen Sie bei Ihrer nächsten Nachbesetzung, auf welcher Ebene auch immer, mutig auf Ihre ganze Mannschaft, um alle Potenziale nutzen zu können.
Autor:
Mag. Monika Dickinger-Steiner, Partnerin der Beratergruppe Neuwaldegg