Ein selbstorganisiertes Team in einer klassisch hierarchischen Organisation – geht das?
Selbstorganisation und verteilte Verantwortung klingen für viele Unternehmen verheißungsvoll. Ja, Mitarbeiter:innen sollen mehr in die Verantwortung gehen, Flexibilität gewinnen und ihr Potenzial ausschöpfen. Aber die bestehende Organisationsstruktur ist häufig ein Hindernis genau diesen gewünschten Prinzipien einen passenden Rahmen zu geben. Wir haben ein Team begleitet, das diesen Rahmen bekommen hat.
„Ich bin längst überzeugt, da draußen tobt die VUCA-Welt, Corona hat uns in den letzten Monaten zu einer virtuellen Organisation gemacht und iteratives Vorgehen scheint mir grundsätzlich sinnvoll. Natürlich will ich, dass wir in unserer Organisation „fast & cheap“ scheitern, um daraus Wichtiges für die nächste Iteration zu lernen. Gleichzeitig läuft unser Geschäft innerhalb unserer klassisch-hierarchischen Linienstruktur ziemlich stabil, wir gehören zu den wenigen Glücklichen, die durch ihr Angebot am Markt neue zusätzliche Nachfrage stillen und dadurch 2020 mitten in einem Unternehmenszusammenschluss auch noch wachsen konnten. Diese Stabilität will ich nicht gefährden, indem wir uns jetzt auf ein, aus prozessualer und geschäftlicher Perspektive, hoch riskantes Vorhaben einlassen, das zum Ziel hat, im Rahmen einer umfassenden agilen Transformation keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Dennoch möchte ich wissen, wie selbstorganisierte Teams, agile Prozesse und Bereichsübergreifende Zusammenarbeit bei uns gelingen können, um langfristig ein Ziel und einen Plan zu entwickeln, wie wir uns erfolgreich organisieren.“
Eine Gelegenheit tut sich auf
So oder so ähnlich hätte die Geschichte aus dem Mund des Geschäftsführers einer aktuellen Kundenorganisation lauten können, würde man ihn nach der aktuellen Situation und seinem Vorhaben fragen. Ein spannender Zufall und eine gehörige Portion Mut haben dann zu einem Experiment geführt, das wir aktuell begleiten dürfen: eine Führungskraft „kam abhanden“ und damit stand ein sechsköpfiges Team aus erfahrenen Projektmanagern plötzlich ohne Teamleiter da. Bereichsleitung und Geschäftsführung standen vor der Wahl: entweder wir finden jetzt sehr schnell Ersatz – oder wir nehmen diese Situation zum Anlass und starten einen Piloten. Das erste selbstorganisierte Team innerhalb einer hierarchischen Struktur war geschaffen. Jedenfalls als Idee im Kopf des Geschäftsführers.
Kann man das einfach so machen? Ja, man kann! Und auch: nein, das geht nicht!
Beide Antworten sind richtig. Die kurze Erklärung warum es geht: irgendwo muss man beginnen um zu lernen – das gilt für kleine, wie für ganz große Veränderungsvorhaben. MitPragmatismus und Kompromissbereitschaft kann man sehr viel von dem, was Selbstorganisation ausmacht auch innerhalb einer ganz anderen Struktur ausprobieren und wichtige Erfahrungen sammeln. Die kurze Erklärung warum es nicht geht: Selbstorganisation setzt ein ganz anderes Verständnis strategischer Ausrichtung und die damit verbundene Klarheit in Hinblick auf Priorisierung und Freiheit der Mittel voraus (Purpose!). Die gewohnten Berichtsstrukturen und Aufgabenbeschreibungen liegen dazu völlig konträr. Wenn ich also einmal anfange mit dem „Umbau“ (egal wo) muss ich eigentlich sehr umfassend tätig werden, sonst knirscht es im System und nichts passt mehr zusammen.
Wir haben uns für die erste der beiden richtigen Antworten entschieden und sowohl Geschäftsführung, Bereichsleitung, als auch das Team selbst zu einem Kick-off Workshop eingeladen. Um den gemeinsamen Tag im Sommer möglichst gut zu nutzen, war alles was wir taten auf das Nötigste reduziert. Das bedeutet: Zum Start ein Gefühl für die Gruppe entwickeln durch Partner-Interviews und gegenseitiges Vorstellen. Danach ein „Theorie Block“, bei dem wir wichtige Prinzipien, Regeln und Praktiken der Selbstorganisation vorgestellt und mit Beispielen erläutert haben. Weglassen war hier die Devise, denn wir hatten uns vorgenommen wirklich nur das, was es für die nächsten Schritte braucht im Workshop zu besprechen. Für die Teilnehmenden war das zwar etwas abstrakt, aber in seiner Kürze doch greifbar und hat vor allem Neugier und Lust am Ausprobieren ausgelöst. Da wir beim Kick-off zum ersten und letzten Mal bis zum gemeinsamen Review nach 3 Monaten die Geschäftsführung und Bereichsleitung „an Bord“ hatten, war uns auch wichtig, dass das Team alle für sie wichtigen Erwartungen und Rahmensetzungen erfährt: genau genommen ging es darum, was entscheidet das Team und was bleibt nach wie vor in der Linie, welche KPIs müssen erfüllt werden und welche (Kommunikations-)Schnittstellen in Form von spezifischen Abstimmungsrunden müssen bedient werden. Zusammengefasst die Dinge, die die Grenze zwischen selbstorganisiertem Team und klassisch hierarchischer Organisation bilden. Beiden Seiten wurde bei diesem Schritt ziemlich viel klar. Dem Team z.B., dass Selbstorganisation kein Freifahrtschein ist, eine kleine anarchische Insel zu bauen. Geschäftsführung und Bereichsleitung lernten wiederum, dass „Rahmen setzen“ auch bedeutet tatsächlich konkret zu werden und bei Setzungen auch zu bleiben – situationsbezogen einfach ein Machtwort zu sprechen schien keine gute Idee. Aber dieser Groschen fiel genaugenommen erst später …
Allem voran: der Purpose!
Auf Basis des offiziellen Auftrags des Teams und mit der Energie des gemeinsamen Anfangs entwickelten wir im gleichen Workshop auch noch den Purpose des Teams. Methodisch stützten wir uns dabei auf das japanische IKIGAI Modell. Der Anfang war gemacht.
In zwei darauffolgenden, sehr intensiven ganztägigen Online-Workshops arbeiteten wir zunächst an einem für das Team passenden Zuschnitt der Rollen. Da wir bewusst OHNE einen „Lead Link“ in der neuen Struktur loslegen wollten und auch keinen formalen „Rep Link“ benötigen würden, blieben als Standardrollen Facilitator und Secretary – der Rest war offen. Dem Team war das Prinzip der Gewaltenteilung besonders wichtig, so wurden speziell in Hinblick auf die Schnittstellen unterschiedliche Rollen geschaffen für unterschiedliche Kommunikationsrichtungen, also raus aus dem Team, rein in das Team und darüber hinaus eine Rolle die regelmäßig an einem themenspezifischen Führungskräftecall der Organisation teilnehmen würde. Ein wichtiges Learning für das Team war hier: Domains einer Rolle (d.h. eine spezifische Entscheidungsbefugnis, die nur diese eine Rolle und keine andere hat) kann man haben, muss man aber nicht. Es ist für das aktive Handeln und Wirken aus Rollen heraus nicht notwendig Domains zu formulieren, größere Flexibilität und Purpose-Drive entsteht mit so wenig Einschränkung wie möglich. Ein weiteres Highlight aus dem Rollen-Workshop war die Rollenwahl! Wir nutzten hier das Verfahren einer vorschlagsbasierten Wahl. Die damit einhergehende Transparenz und auch Wertschätzung hat neben der praktischen Funktion (am Ende hat man ein Ergebnis das alle gut tragen können) auch eine soziale, in ihrem positiven Ausmaß nicht zu unterschätzende Funktion, die sich doch SEHR von dem unterscheidet, was das Team bisher im Rahmen von Positionsbesetzungen kannte. Der dritte und letzte Workshop um das Experiment aufzusetzen drehte sich um das Thema Meetingformate. Die einfache Unterscheidung zwischen Tactical (operative Themen) und Governance (an Rollen und Strukturen arbeiten) und der damit klar verbundene Ablauf überzeugte das Team. Diese Struktur wollten sie für sich nutzen. Auch erste Metrics für einen regelmäßige Review wurden entworfen und besondere Aspekte der Aufgabenverteilung besprochen und gelernt. Gegenüber einem interpersonellen Meeting (wir haben 4 mögliche „Räume“ beleuchtet) herrschte anfangs Skepsis, dann wurde aber auch ein solches Meeting zumindest einmal im Monat für die neue Routine vorgesehen.
Erste Effekte werden sichtbar
Danach passierte etwas Magisches: das Team begann nach den neuen Regeln (wenige!) und Strukturen (super neu!) zu arbeiten und empfand von Tag eins an einen hohen Mehrwert und auch Spaß bei der Sache. Ein Mitglied des Teams war von den Meetings sogar so überzeugt, dass er das Konzept seinen eigenen Kunden vorstellte. Vorgesehen war, dass wir in der darauffolgenden Phase ungefähr im Wochenrhythmus punktuell unterstützen würden, z.B. durch Moderation einzelner Meetings oder anlassbezogene Q&A Sessions. Wenig davon wurde gebraucht, was uns etwas unruhig machte. Als wir dann aber doch mal da waren sahen wir wirklich Unglaubliches. Dieses Team hielt sich einfach an das Konzept, das wir gemeinsam erarbeitet hatten, schenkte aufmerksam Fragen und Themen, die sich ergaben und noch nicht gelöst waren, Beachtung und ging diese unaufgeregt an. An manchen Stellen wurden wir gefragt, an anderen nicht. Aufregung entstand erst, als sich ein Vorfall ereignete, der die Geschäftsführung auf den Plan rief und besagtes Machtwort sprach. Ein solcher Fall „stört“ natürlich den Prozess und benötigt Klärung. Damit diese gelingen konnte wurde ein „interpersonelles Meeting“ einberufen. Das Team entdeckte eigene Muster und Hebel aber auch Spannungen, die nach außen prozessiert werden mussten – und zwar in Richtung Geschäftsführung. Es ließ sich schließlich gut klären und der oben schon angesprochene Groschen fiel auf weichen Grund. Etwas Unterstützung von uns brauchte es dann doch noch: Governance Meetings gewinnen nämlich an Wirkung, je stringenter sie durchgeführt werden. Da muss die Moderation manchmal sehr streng sein und die neu entdeckte Harmonie stören. Aber auch hier wurde das Team schnell geübter und auch mutiger in der Anwendung.
Entdeckungen aus dem Grenzgebiet
Neben der direkten Führungsebene und der Geschäftsführung kam es durch die neue Struktur des Teams allerdings auch an anderen Berührungspunkten zu Fragen, die plötzlich im Raum standen. Der bisherige Teamlead hatte an diversen Runden teilgenommen, die sich mehr oder weniger dicht über die Woche verteilten. Jede einzelne hatte eine etwas andere Zusammensetzung und einen etwas anderen Inhalt. Als das selbstorganisierte Team versuchte diese Präsenzpflicht innerhalb der neuen Rollenstruktur zu verteilen, kam nicht nur einmal die Frage auf: was ist eigentlich der Sinn und Zweck dieses Meetings? Und was wird darin von der spezifischen Rolle erwartet? Manches Mal blieb die erhoffte Klarstellung aus. Man kann auf zweierlei Weise damit umgehen. Zum einen sich einfach einfügen. Es gibt dieses Meeting, also schicken wir jemanden hin. Zum anderen kann man aber auch die auftretenden Fragen zum Anlass nehmen, auch die Meeting Struktur außerhalb des selbstorganisierten Teams zu evaluieren und anzupassen. Aber das ist eine andere Geschichte. Wie gesagt, man KANN …
Die Autorin Friederike Machemer
ist Beraterin und systemische Organisationsentwicklerin und seit 2019 bei der Beratergruppe Neuwaldegg. Sie unterstützt Organisationen dabei, den Herausforderungen rund um das Themenfeld Agile Transformation zu begegnen. Ihr Hintergrund: ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie, mehrjährige Erfahrung als Strategieberaterin in vielfältigen Branchen und Organisationen. Zusätzliche Ausbildungen in agilen Methoden, Design Thinking, Change Management und systemischem Coaching.