Vom Fliegen und Führen – eine Vertrauensfrage
Führungskräfte können viel von einem Flugkapitän lernen. Nach einem Interview (kurz vor COVID-19) mit dem A340-Kapitän Philipp Peters* war mir klar, warum der Anspruch an ihn als Führungskraft so hoch ist: Seine Crew wird bei jedem Flug neu zusammengestellt, hat sich in der Regel vorher noch nie gesehen und muss wie ein Uhrwerk zusammenarbeiten. Von ihrem Teamwork hängt ein sicherer Flug für mehrere Hundert Menschen ab. Es gibt viele Sicherungssysteme aufgrund niedriger Fehlertoleranz und der Flugbetrieb besteht aus standardisierten Abläufen und einstudierter Kommunikation mit vielen Checklisten. Doch all das genügt nicht, wenn die Crewmitglieder einander nicht vertrauen. Die Aufgabe der Führungskraft bzw. des Kapitäns: Wie kann unter Fremden schnell Vertrauen aufgebaut werden? Vier Prinzipien davon haben wir uns näher angeschaut.
1. Vertrauen auf den ersten Blick
Kommunizieren Sie Ihre Arbeitsweise von Anfang an klar. Im Flugbetrieb geht das gar nicht anders. Das Briefing mit der gesamten Crew dauert nur eine Viertelstunde. Keine Zeit für lange Ansprachen, und gleichzeitig die Herausforderung, die Balance zwischen “Teamwork” und “Sicherheit gewährleisten” zu bewerkstelligen. Der erste Eindruck zählt, das ist auch Kapitän Peters bewusst, der sich selbst nach 24 Jahren im Cockpit jedes Mal erneut gedanklich auf diese Situation vorbereitet. Für ihn kommt es dabei nicht nur auf seine Sätze an, sondern noch mehr auf den Gesamtauftritt mitsamt Körpersprache und Prägnanz der Wortwahl. Vertrauen erwecken, Kompetenz ausstrahlen und klare Aussagen treffen: Nach wenigen Worten muss die Crew wissen, welche Bedeutung das Team für die Sicherheit des Fluges hat. Vereinfacht gesagt muss nach dem Briefing in erster Linie folgender Eindruck im Gedächtnis bleiben: „Der Kapitän vertraut uns, wir vertrauen ihm, gemeinsam kommen wir sicher ans Ziel!”
Auch später im Cockpit herrscht ein ruhiger und sachlicher Ton. Je wichtiger und komplexer der Inhalt, desto kürzer und prägnanter formuliert die Sätze.
2. Vertrauen wecken durch das Teilen von Gedanken: Wirklichkeit entsteht im Dialog
Sprechen Sie ruhig ihre Gedanken aus. Laut denken ist hilfreich und spart Zeit.
Im Cockpit werden Gedankengänge und abgeleitete Handlungen laut kommuniziert. So kann der First Officer nachvollziehen, ob die Schlussfolgerung des Kapitäns die richtige ist – und umgekehrt. Kapitän Peters: „Wenn die Kollegen meinen inneren Dialog mithören, können sie sich selbst dazu Gedanken machen und mir direkt und ohne Zeitverlust hilfreiches Feedback geben.”
In unseren Führungskräfteentwicklungen vermitteln wir den strategischen Dialog. In ihm geht es genau darum, auf der einen Seite Gedankengänge offen zu teilen und den anderen daran teilhaben zu lassen und auf der anderen Seite aktiv nachzufragen, welche Gedankengänge beim Gegenüber zu einer bestimmten Entscheidung geführt haben.” Dies lässt nicht nur andere Meinungen zu, sondern holt sie aktiv ein, um auf Basis von mehreren Standpunkten ein noch besseres Ergebnis zu erzielen.
3. Vertrauen wecken durch Eingestehen von Fehlern
„Ihr seid unsere Augen in der Kabine, wenn Euch etwas auffällt, meldet Euch!“ Das kommuniziert Kapitän Peters bei jedem Flug erneut. Fehler passieren, das Vertuschen ist viel gefährlicher als der Fehler selbst. Den fehlerfreien Flug gibt es nicht. So kann es z. B. passieren, dass man einen Funkspruch eines Fluglotsen anders interpretiert oder ihn ganz überhört, weil man sich gerade auf etwas anderes konzentriert. Es ist dann wenig hilfreich, wenn nicht offen mit Fehlern umgegangen wird oder diese gar vertuscht werden. Das wird nur durch entsprechende Atmosphäre im Cockpit möglich. Jeder im Team muss sich auch trauen, Fehler direkt anzusprechen. Auch dies muss bereits im Briefing klar kommuniziert werden. Sicherheit geht über alles, deshalb müssen auch vermeintliche Fehler anderer angesprochen werden. Komisches Gefühl? Lieber ein paarmal umsonst gefragt als einmal zu wenig. Wenn es kein Fehler war, umso besser.
4. Vertrauen wecken durch Schwäche zeigen
Niemand ist perfekt. Schwäche zeigen wirkt sich positiv auf Arbeitsbeziehungen aus. Bei den Rittern bedeutete ein geöffnetes Visier, sich verwundbar zu machen. In der heutigen Zeit ist es das offene Eingestehen von Schwächen. Das gilt auch für temporäre Defizite. „Mit offenem Visier” gehen mutige Menschen mit hohem Selbstvertrauen durchs Leben – das ist die Außenwirkung.
Kapitän Peters hatte vor einem langen Flug eine sehr schlechte Nacht im Crewhotel und sagte zu seinem ersten Offizier nach dem Briefing: „Ich habe nachts richtig schlecht geschlafen, pass‘ heute doppelt auf mich auf”. Damit ging er das Risiko ein, sich zu schwächen und genau das wurde als Stärke ausgelegt. Das Zeigen von Verwundbarkeit bringt dem anderen hohes Vertrauen entgegen und wirkt sich nachhaltig auf die Beziehungs- und Arbeitsqualität aus. Nicht nur im Cockpit. Peters hält sich häufig zurück mit Anmerkungen und überlässt den Co-Pilot:innen die Ideen. Das motiviert und sie bringen sich danach (insbesondere in kritischen Situationen) deutlich häufiger ein. Zeitkritische Situationen sind von dieser Strategie natürlich ausgenommen.
Am Boden oder in der Luft: Vertrauen ist der soziale Kitt
Vertrauen ist nicht nur die Basis im Cockpit, sondern die Basis des ganzen Lebens. Ohne Vertrauen von Menschen in andere hätten wir nie einen Job bekommen und nie jemanden eingestellt. Wir könnten nicht im Restaurant essen und Medikamente einnehmen. Man könnte sagen, dass Vertrauen der Teppich ist, auf dem wir alle gemeinsam stehen.
Niklas Luhmann definiert Vertrauen als „Zutrauen in die eigenen Erwartungen” und als den „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität”. Natürlich bedeutet das auch, Risiken eingehen zu müssen. Wer Vertrauen hat, geht auch das Risiko einer möglichen Enttäuschung ein. Je risikobereiter Sie sind, desto mehr können Sie gewinnen.
Warum Vertrauen für Führungskräfte so wichtig ist
Vertrauen in sich, in andere und in Teams ist eine innere Haltung und als solche ein Schlüsselfaktor für erfolgreiches Arbeiten, insbesondere wenn wir über Arbeiten im agilen Kontext sprechen. Dies kann nur dann gelingen, wenn Führungskräfte es schaffen, sich von eigenen Vorstellungen, wie etwas zu geschehen hat, zu lösen und anderen echten Freiraum geben. Vertrauen (in sich und andere) haben und Vertrauen wecken erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion und das Erkennen eigener Muster. Vertrauen ist Einstellungssache, es kommt durch Ehrlichkeit, Integrität und Authentizität. Und indem Sie Ihr Visier öffnen: Kapitän Peters weiß, dass seine hohe Seniorität im fliegerischen Alltag eher zur Gefahr werden kann und spricht dies explizit an: “Schaut bitte, dass ich alles richtig mache. Wenn ich etwas weglasse, dann ist das mit Sicherheit kein toller Trick oder sowas, sondern ich habe es wahrscheinlich vergessen. Sprecht es an!”
Wie offen ist Ihr Visier? Was möchten Sie ausprobieren, um Vertrauen zu stärken?
* Name des Piloten wurde geändert. Sein richtiger Name ist dem Autor des Blogbeitrags bekannt.
Der Autor:
David Max Jeggle Dipl. Betriebswirt und systemischer Organisationsberater bei der Beratergruppe Neuwaldegg mit den Schwerpunkt Purpose Driven Organizations, agile Transformation und Führung. Dieser Artikel ist das Ergebnis zahlreicher Interviews zum Thema Vertrauensbildung, die mit Dr. Tim-Christian Bartsch gemeinsam geführt worden sind.
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