Warum Unternehmenskultur immer stärker ist als ich
Eine Geschichte aus dem Neuwaldegger Gurkenglas: Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Tag in der neuen Firma – vor elfeinhalb Jahren bei Neuwaldegg. Da saß ich in einem Stuhlkreis (äh „Sesselkreis“) und staunte über die neue Sprache, die mir fremd war, aber allen um mich herum offenbar sehr geläufig.
„Im Sinne von“, „ah - spannend!“, „aus einer Change-Perspektive“, „da habe ich eine andere Hypothese“.
Ich begann innerlich Strichlisten zu machen, wie oft die Lieblingsbegriffe in einem Meeting wohl fallen würden. Ich war mir sicher, dass ich diesen merkwürdigen systemischen Dialekt niemals annehmen würde.
Pustekuchen!
Nur wenige Wochen später hörte ich mir selbst beim Reden im systemischen Dialekt zu und jemand anderes hätte für mich Strichlisten führen können. Und das ist nicht das einzige Kulturmerkmal meines Unternehmens, das in mich eingesickert ist … Nach nur wenigen Wochen war ich „neuwaldeggerisch“ und nach einigen Monaten eine „Neuwaldeggerin“.
Und dabei war ich mir beim Eintritt in die Firma so sicher gewesen, dass ICH auf die Organisation abfärben würde. So viele Ideen hatte ich, was man hier anders machen könnte – mit frischem Blick von außen fällt einem ja vieles auf. All das wollte ich anpacken.
Als ich die Metapher vom Gurkenglas gehört habe, musste ich herzlich lachen. Ja! So eine Gurke bin ich.
Ein Gurkenglas kann man sich vorstellen wie eine Organisation mit einem festen Rahmen, einer sehr klaren Formalstruktur (hier in Form eines Glases, eines Schraubverschlusses und eines Etiketts mit Informationen) und darin plätschert die informale Struktur – der Essigaufguss – auch Organisationskultur genannt.
Kultur ist wie ein Essigaufguss
Mal mehr, mal weniger würzig, mal zwiebelig oder pfeffrig, scharf oder süß-würzig – in jedem Unternehmen anders. In diesem Sud sind jene impliziten Verhaltensnormen, Einstellungen, Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen, die in der Organisation gelten. „So machen wir das hier!“
All die Dinge, die weder in der Job-Description, noch in Bewerbungsgesprächen, noch in der Unternehmensbroschüre erwähnt werden. Aber man muss sie schnell lernen, wenn man neu reinkommt und in einer Organisation wirksam werden will.
Die Gurkenglas-Metapher sagt nun: Wenn eine neue Mitarbeiterin (frische Einlegegurke) – in die Organisation (Gurkenglas) kommt, dann schmeckt das Wasser nach einer Woche leicht gurkig. Aber die Gurke ist nach einer Woche schon eine Essiggurke geworden.
So wie ich – ziemlich schnell eine Neuwaldegger Gurke. Und das Neuwaldegg-Wasser schmeckt seither auch nach Franziska – aber eben nur ein bisschen. Während ich schon ganz Gurke bin.
Warum ich Gurken mag
Ich habe eine sehr familiäre Beziehung zu Gurkengläsern – meine Zwillingsschwester hat ihre Karriere bei den Knax Gurken begonnen und bei uns zu Hause stand immer eine köstlich essigsaure Produktpalette im Schrank – deshalb mag ich diese Kulturbeschreibung so gerne.
Was so lustig klingt, ist es eigentlich nicht. Wir reden hier über die Dominanz sozialer Systeme. Von wegen freier Wille und so …
Sobald ein Individuum Teil eines sozialen Systems wird (z. B. Verein, Familie, Firma, Kirchengemeinde), beginnt das soziale System das Denken und Handeln des Individuums zu steuern. Der Sinnhorizont (Essigaufguss) schränkt den Handlungsspielraum ein. Er legt fest, welches soziale Verhalten hier erwartbar ist.
Wir brauchen Sinnhorizonte
Ohne Sinnhorizonte hätten wir es schwer als Gesellschaft, sie haben eine Schutzfunktion, weil sie Kommunikation erwartbar machen. Wenn immer alles möglich wäre, dann könnte ich nicht mehr aus dem Haus gehen, geschweige denn in ein Meeting – denn dort könnte immer alles passieren (Schüsse, Drogenparties, Rosenkranzbeten, Gruppensex, …). Kultur hilft, in sozialen Systemen Verhalten zu steuern, weil es dadurch erwartbar wird.
Und soziale Systeme sichern ihre Überlebensfähigkeit, indem sie nicht durch jede:n Einzelne:n verändert werden können, sondern indem sie Einzelne verändern – anpassen an die innere Struktur.
Wir alle kennen Geschichten von neuen CEOs, die mit großen Plänen gekommen sind und die Organisation nach ihrem Bild umkrempeln wollten. Entweder sie haben gelernt, ihre Pläne loszulassen oder anzupassen und sind eine gute Gurke geworden, oder das Glas hat sie bald wieder ausgespuckt.
Und wir kennen auch die unterschiedlichen Gesichter von Menschen, die in verschiedenen Gurkengläsern stecken. Einen Mann, der sowohl Liebhaber als auch Ehemann ist, erkennt man kaum wieder – je nachdem, wo man ihn gerade trifft – hier süß-würzig, dort säurebetonter. Oder das Beispiel einer Unternehmerin, die auch Kammerfunktionärin ist – als wären es zwei verschiedene Personen.
Kultur kann was! Sie reduziert Komplexität und macht damit Kommunikation im Zusammenleben und -arbeiten möglich.
Und so habe ich mich damit angefreundet, dass ich eben auch nur eine Gurke bin – mit der Demut, dass die Organisation, in der ich arbeite, mehr mich verändert, als dass ich sie verändere. Das schmeckt dem Ego nicht, aber es dient dem Leben.
Und mit meinen Neuwaldegger Mit-Gurken beschäftigt mich natürlich, ob und wie man den Gurkenaufguss, also eine Organisationskultur verändern kann.
Auch hier hilft Demut 😉
Mehr dazu erzählen wir beim Corporate Culture Jam 2025. Ein besonderes Jahresforum am 25./26. März 2025 im Schlosspark Mauerbach, bei Wien, zu dem wir Euch einladen.
Save the date! Es werden zwei spannende Tage in einem neuen Gurkenglas mit liked minded Menschen, die Organisationen führen und entwickeln und sich ähnliche Fragen stellen: Wo setze ich an? Und wie verändere ich Kultur, wenn ich Kultur nicht verändern kann?
Werdet für zwei Tage Gurke und kommt! Wir haben ein kleines Kontingent an vergünstigten Tickets für Menschen, die Essigsaures lieben.
Über die Autorin
Franziska Fink ist systemische Beraterin & Coach, Purpose-Expertin, Buch-Autorin und Programmleiterin verschiedener Neuwaldegger Lehrgänge – also die volle Neuwaldeggerin mit vielen Bällen in der Luft, einem scharfen Blick und immer einem Lachen auf den Lippen. Mit Unternehmen arbeitet sie hauptsächlich an den Themen Purpose, strategische Entwicklung und Change. Aktuell schreibt sie an einem neuen Buch und wird beim Corporate Culture Jam gemeinsam mit Anna Jantscher die Keynote zum Thema Organisationskultur halten. Vielleicht bringt sie dort zum besseren Verständnis auch Scharf-Würziges aus ihrem Vorratsschrank mit.
Corporate Culture Jam 2025
Das etwas agilere Jahresforum von Succus, mit Identifire, M.O.O.CON und uns. Wer ist dabei? Informationen zu unserem Engagement und einem unserer letzten Auftritte finden Sie hier