Welche Bedeutung hat Coaching in der agilen Organisation?
Die Anfragen für unseren Lehrgang in Business Coaching nehmen aktuell deutlich zu und ebenso deutlich ist, dass die Teilnehmenden immer mehr Fragen rund um agile Organisation beschäftigen.
Grund genug, etwas dazu zu schreiben und dieser Kausalität nachzugehen: Wie hängt Coaching und agil zusammen und wie können Führungskräfte und Beratende das nutzen?
Was kreuzen Sie bei diesem Quiz an?
- Coaching bedeutet in agiler Organisation nichts anderes als in hierarchischer Organisation.
- Coaching hat in agilen Teams gar keine Relevanz.
- Wer nicht coachen kann, kommt im Agilen nicht klar.
- Coaching ist zentraler Führungsstil in agilen Organisationsformen.
Wenn Sie Antwort 4 angekreuzt haben, lesen Sie trotzdem weiter, denn Sie kennen meine Herleitung noch nicht 😉
Wir beginnen beim Thema Komplexität. Damit meine ich das Zusammenspiel aus Varietät und Volatilität – also, wie vielfältig die Anforderungen und Erwartungen an ein Unternehmen oder ein Team sind und wie volatil die Umfeldbedingungen sind, mit denen es umgehen muss. Die Komplexitätsmatrix ist dafür ein hilfreiches Tool
Was ist Komplexität
Komplexitätslandkarte
Sie zeigt, dass je vielfältiger die Erwartungen von außen und je unvorhersehbarer die Umfeldbedingungen sind, umso größer ist die Komplexität.
Komplexität ist der Zustand, den ich nicht mehr berechnen, vorhersehen oder linear managen kann. Kompliziertes kann ich noch mit viel Fleiß verstehen und entwirren. Komplexes entzieht sich dem kausal-logischen Durchdringen. Ein gutes Beispiel sind alle Zusammenhänge, die uns das Corona-Virus gezeigt hat. Weltweit versuchen Nationen und supranationale Einheiten mit unterschiedlichen Mitteln die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Manches wirkt mehr, anderes weniger. Bis heute gibt es keinen Masterplan, eben weil die globalen Zusammenhänge und sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wechselwirkungen komplex sind.
Lassen Sie uns nun von der Weltgesellschaft wieder reinzoomen auf die Ebene von Organisationen und auf die Komplexitätsmatrix. Jeder Bereich eines Unternehmens lässt sich irgendwo auf dieser Matrix ansiedeln. Vielleicht überlegen Sie ja gerade, wo Sie Ihren Verantwortungsbereich einordnen?
Links unten ist die Komplexität gering. Das könnte in einer Massenproduktion sein, in einem Rechenzentrum oder in der Grundstoffchemie. Direktive oder transaktionale Führung tun hier einen guten Dienst. Hier gibt es Pläne, das richtige Vorgehen, hier geht es um Standardisierung und Effizienz.
Links oben ist Krise, also nicht komplex, sondern chaotisch. Vielleicht hat Corona das Geschäft zum Einbruch gebracht, vielleicht hat ein chinesisches Start-up das eigene Geschäftsmodell disruptiert, vielleicht ist kein Geld mehr da, um die Löhne zu zahlen. Führung wandert im Krisenmodus sofort nach oben in einen kleinen Kreis: top-down, klare Entscheidungen, jemand muss die Verantwortung übernehmen. Der Fokus engt sich ein aufs Überleben.
Komplexitätslagen und passendes Management
Komplexitätslandkarte mit Schwerpunkten der Führungsfunktion
Gegenüber rechts unten sieht die Welt anders aus: eine Vielfalt an Anforderungen und Erwartungen, aber der Komfort von stabilen Bedingungen. Hier sind Universitäten, Forschungsinstitute oder Schulen angesiedelt. Hier geht es um Wissen und Expertise. Es gelten übergeordnete Regeln (z. B. des Wissenschaftsbetriebs oder des Bildungsministeriums). Führung hat Status und kümmert sich um Administratives, Beförderungen, Disziplinarisches, Ressourcen.
In der Mitte finden sich viele Unternehmensbereiche z. B. in der Automobilbranche, Mobilfunk, Konsumgüter, Versicherungen usw. Zu managen ist hier nicht leicht, weil viele Anforderungen unter einen Hut gebracht werden müssen, die sich zum Teil widersprechen: günstig aber umweltfreundlich, beste Qualität aber kürzeste Lieferzeit. Gemanagt wird mit vielen KPIs, organisiert wird mit Matrix-Modellen, gesteuert wird mit Fokus auf Performance und Ergebnisse, geführt wird mit Zielen – mal mehr transaktional, mal mehr transformational. Manche Teams in dieser Bubble beginnen, sich agil aufzustellen.
Rechts oben kommt nun wirklich agil ins Spiel. Alles ist laufend in Bewegung, wenig ist wirklich berechenbar. Die Erwartungen und Anforderungen der Stakeholder sind divers und widersprüchlich. Start-ups, IT- oder Tech-Unternehmen, R&D-Abteilungen, Agenturen oder Inkubatoren brauchen ein hohes Maß an Flexibilität und Kreativität, um dort oben gleichzeitig stabil und beweglich zu sein. Sie müssen Chancen erkennen und nutzen können.
Agile Organisation ist hier nicht als vorübergehende Managementmode entstanden, sondern aus dem Need heraus eine Steuerung zu finden, die funktioniert. Klassische Hierarchie- oder Matrixorganisation wäre dysfunktional. Verantwortung wird hier verteilt, Teams arbeiten agil und selbstorganisiert.
Hier hilft es, wenn möglichst viele unternehmerisch mitdenken und das Pouvoir haben zu entscheiden. Hier hilft es, wenn das gemeinsame Ziel klar und energetisierend ist. Hier hilft es, iterativ und in kurzen Zyklen vorzugehen, aus Fehlern und Erfahrungen permanent zu lernen, die Struktur laufend weiterzuentwickeln. Und hier hilft es, wenn Führung in eine andere Rolle geht.
Führung bedeutet hier Kontextsteuerung: Sie kümmert sich um den Rahmen und die Ressourcen, damit die Mitarbeitenden und Teams gut arbeiten können.
Wenn man die nächste Folie über unsere Komplexitätsmatrix legt, zeigt sie die unterschiedlichen Funktionen von Führung, die je nach Komplexitätslage gebraucht werden.
Schwerpunkte der Führungsfunktion
Komplexitätslandkarte mit den Schwerpunkten der Führungsfunktion
Je größer die Freiräume und Autonomie der Team-Mitglieder, umso mehr wird die Führungskraft zum Coach. Coaching bekommt eine Schlüsselrolle – es wird zur Form, in der Führungskräfte und Expert:innen mit den anderen Organisationsmitgliedern interagieren. Coaching ist der zentrale Führungsstil in der agilen Organisation – es ersetzt direktives Führungshandeln.
In der Endausbaustufe einer agilen Organisation gibt es keine Führungskräfte mehr. Hier ist die Autorität auf unterschiedliche Rollen und Köpfe im Team verteilt.
Ein Beispiel ist Holacracy, eine agile Organisation in Rollen und Kreisen. Hier gibt es z.B. die Rolle „Lead Link“. Sie hat die Autorität, Rollen zu besetzen und den Teammitgliedern auch Feedback zu ihrer Rollen-Perfomance zu geben. Die Lead Link-Rolle nimmt ihren Einfluss über Coaching wahr. Es kann passieren, dass ein Kollege aus dem Team mit der Frage kommt, wie er sich in einer bestimmten Situation entscheiden soll – der Kollege hat qua Rolle die Autorität, das allein zu entscheiden, aber ihm fehlt noch die Klarheit. Aufgabe der Lead Link-Rolle ist dann, sich Zeit zu nehmen für eine Coachingrunde und dem Kollegen in ihrer:seiner Rolle zu unterstützen, selbst Lösungen zu entwickeln.
Wenn Sie Führungskraft sind, kennen Sie solche Situationen. Eine Mitarbeiterin kommt zu Ihnen und fragt, wie Sie entscheiden würden. Nun können Sie wählen, ob Sie Ihre Meinung dazu auspacken – höchstwahrscheinlich wird die Mitarbeiterin dann Ihrem Votum folgen – oder, ob Sie mit Hilfe von Fragen Ihrem Gegenüber zur eigenen Klarheit verhelfen. Letzteres kostet in dem Moment vielleicht mehr Zeit, bringt Sie aber schneller zum Ziel, wenn Ihnen ein Anliegen ist, dass Ihr Team wirklich agil arbeitet.
Auch die Rolle der:s Externen, die:der ein Unternehmen bei der agilen Transformation begleitet, fungiert als Coach. Sie unterstützt die Teammitglieder, in diese neue Form des Zusammenarbeitens zu kommen, die so viel mehr abverlangt, als einen neuen Prozess zu lernen. Selbstmanagement, Selbstreflexion, Konfliktlösung, Selbstverantwortung – die Kompetenzen, die jede:r in der agilen Organisation braucht, lernt man nicht mal so eben. Ein systemischer Coach unterstützt diesen Prozess, indem er den Blick auf Ressourcen lenkt, auf das, was da ist. Indem er die Stärken des Gegenübers stärkt, die eigenen Lösungen für sich behält und stattdessen mit Fragen hilft, selbst ans Ziel zu kommen.
Hier schließt sich der Kreis zur Einleitung. Noch vor sieben Jahren kamen die Teilnehmenden unseres Coaching Campus, weil sie systemischer Coach werden wollten. Heute sind die Intentionen deutlich breiter:
Führungskräfte lernen bei uns coachen, weil dieses Tool- und Mindset ihr Handwerkszeug für agile Führung ist.
Expert:innen lernen Coachen, weil ihnen diese Kompetenz in der lateralen Führung hilft.
Agile Coaches lernen systemisches Coaching, weil hier die Haltung und das Herangehen vermittelt werden, die ihnen bisher noch fehlen.
Organisationsberatende lernen coachen, um Kundenunternehmen gut in Richtung agil zu begleiten.
Und warum gerade der systemische Ansatz für agil?
Weil die Systemtheorie gute Antworten für Komplexität liefert. Das Organisations- und Weltbild, das dahinter steckt, betrachtet Unternehmen und Teams als komplexe soziale Systeme. Der Blick auf Organisationen ist kein mechanistischer, er sieht Unternehmen nicht als steuerbare Maschinen, sondern als komplexe Systeme – zu einem gewissen Grad „undurchschaubar“ und nicht direkt steuerbar. Die systemische Beratung geht daher in Schleifen vor: Beobachten und Informationen sammeln, Hypothesen bilden, Interventionen entwickeln und umsetzen. Und schon beginnt die nächste Schleife: Die Wirkung der Umsetzung beobachten, Hypothesen dazu bilden, Interventionen entwickeln usw. Sie erkennen vielleicht das „build-measure-learn“-Prinzip, das im Kontext hoher Komplexität funktioniert, um sich erfahrungsbasiert vorzutasten.
Die erkenntnistheoretische Position im Systemischen ist der Konstruktivismus. Er beschreibt die Welt und die Wirklichkeit als Ergebnis unserer Konstruktion, also unserer Brillen, mit der wir auf die Welt schauen. Wer Kund:innen helfen will, ihre Probleme zu lösen, der erfindet dafür also keinen passenden Nagel oder Hammer (das wäre die Konstruktion der Beraterin), sondern hilft dem Kunden, seine „Konstruktion“ zu erkennen. Denn wer merkt, wie er ein Problem konstruiert, wird in dem Moment ermächtigt, eine andere Konstruktion zu wählen, die dienlicher ist.
Wenn Sie agile Teams und Prinzipien kennen, sehen Sie hier die Verbindungen. Es geht um Vertrauen und Empowern – ob hierarchisch oder lateral. Unter hoher Komplexität braucht es die ganze Kreativität eines Teams. Systemisches Coaching mit der Haltung und den Tools wird hier zur Brücke, die alle in die agile Organisation mitnehmen kann.
Über die Autorin
Franziska Fink ist systemische Beraterin & Coach, Purpose-Expertin, Buch-Autorin und gemeinsam mit Nicole Lauchart-Schmidl auch Programmleiterin des Neuwaldegger Coaching Campus. Die Beiden haben ein neues Konzept für unsere Coaching-Aus- und Weiterbildung entwickelt, bei dem man nicht nur coachen lernt und ab dem ersten Modul selbst coacht, sondern auch von erfahrenen Coaches gecoacht wird.
Neuwaldegger Coaching Campus
Ein kompakter Lehrgang in 4 Modulen, in dem Sie systemisches Coaching lernen – das konkrete Handwerk genauso wie die Theorie und die Haltung. Für Führungskräfte, interne und externe Berater:innen. Wir starten mit dem neuen Durchgang am 3. November 2021. Bewerben Sie sich!
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