Führung im Kontext Agiler Methoden, Teil 2: Kanban
Durch Agile Transformationen und Selbstorganisation werden Macht und Führung nicht aus der Welt geschafft, sie müssen nur neu betrachtet und verhandelt werden. Für Organisationen und Führungskräfte bedeutet dies ein hohes Maß an Unsicherheit. In unserer Serie „Führung im Kontext Agiler Methoden“ wollen wir auf die bekanntesten Agilen Frameworks, Methoden und Ansätze eingehen und deren Implikationen auf Führung und Führungskräfte aufzeigen. In Teil 2 widmen wir uns Kanban.
Im ersten Teil unserer Blog-Serie haben wir darüber gesprochen, was Scrum für Führungskräfte bedeutet. Dabei haben wir eine interessante Beobachtung gemacht: Im Scrum Framework kommen traditionelle Führungskräfte, welche ihre Macht aus einer organisationalen Hierarchie beziehen, nicht vor. Dies führt in vielen Organisationen zu Irritationen: Muss ich mich als Führungskraft ändern? Geht mich das überhaupt etwas an? Werde ich obsolet?
In diesem Artikel wollen wir uns der Methodik „Kanban“ widmen und auch da kommen Führungskräfte nicht vor. Noch viel mehr: Macht wird hier ganz explizit anderswohin verteilt, nämlich an den Fluss. Aber alles der Reihe nach…
Kurzüberblick zu Kanban
Kanban ist eigentlich die logische Fortsetzung all der Dinge, die rund um das Toyota Production System entstanden sind und die Effizienz von Produktionssystemen zum Ziel haben. Dies ist auch an dem Wort Kanban (=japanische Bezeichnung für Materialanforderungskarten) ersichtlich, das in vielen Just-in-time-Produktionsstandorten (aber z.B. auch in Baumärkten) zum Einsatz kommt. Die Methodik Kanban kommt – wie so viele Agile Arbeitsweisen – aus der IT und wurde von David J. Anderson Anfang der 2000er-Jahre entwickelt und 2010 als Buch veröffentlicht.
Kanban kommt aus der Produktion und versucht den Durchfluss durch ein System, visualisiert durch ein Board, zu verbessern.
Das Ziel von Kanban ist es, den Durchfluss durch ein System zu verbessern, also so viele Anforderungen wie möglich umzusetzen (besser gesagt: abzuschließen). Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette auf einem Board visualisiert und vor allem die Durchlaufzeit (TIP – Time in Process) und die Anzahl der gleichzeitigen Arbeit (WIP – Work in Progress) betrachtet. In einem stetigen Prozess der kontinuierlichen Verbesserung wird also das Gesamtsystem abgebildet, mit TIP und WIP gespielt und der Durchsatz durch das System verbessert.
Das alles klingt jetzt vermutlich sehr mechanisch und entmenschlicht, tatsächlich besteht ein großer Teil der Steuerung von Kanban-Systemen aus Mathematik und Statistik, aber in seiner reinsten Form ist Kanban pures Mindset: Die Einstellung, immer das große Ganze im Blick zu haben und sich stetig zu verbessern. Da dieses Mindset nicht immer selbstverständlich ist, wird Kanban nur selten allein verwendet. Zumeist entlehnen daher Kanban-Initiativen Elemente aus anderen agilen Frameworks (etwa Daily Stand-Ups aus Scrum) um jene operativen Antworten zu bekommen, die Kanban nicht gibt.
Alle Macht dem Fluss
Wie können wir uns also das reale Leben in einem Kanban-Team vorstellen? Und welche Rolle haben hier Führung und Macht?
Ein interessantes Phänomen, das in Organisationen oft stattfindet und durch Kanban zum Vorschein kommt, sind lokale Optimierungen, die dem Gesamtsystem entgegenwirken. Frei nach dem Motto „das Gegenteil von gut ist gut gemeint“ wird also an einer Stelle etwas verbessert, wodurch es insgesamt aber schlechter wird. Dies kann jedoch nur dann bemerkt werden, wenn auch wirklich die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet wird. Ist nur ein kleiner Ausschnitt im Blick sind derartige Erkenntnisse nicht möglich. Da Wertschöpfungsketten bei den meisten Organisationen über Bereichs- und Hierarchiegrenzen hinweg verlaufen, gibt es in den Organisationen oftmals Bewegungen, derartige Betrachtungsweisen aktiv zu verhindern, beziehungsweise werden durch diese Bewegungen singuläre Schuldzuweisungen quasi legitimiert. Denn wie die Theory of Constraints besagt, hat ein System immer nur einen Bottleneck. Wird dieses gelöst, tritt eine neue Engstelle auf und immer so weiter … – aber das ist in einem einzelnen Moment oftmals egal: Das Gesamtsystem hat ein Problem und es gibt eine einzige Stelle, die dafür verantwortlich ist.
Um die Arbeit mit Kanban also erfolgreich zu gestalten, bedeutet das für Sie als Führungskraft mitzuhelfen, dass die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet werden kann und dass lokale Optimierungen vermieden werden. Wie dies als Organisation in Hierarchien und Verantwortungen übersetzt werden kann, ist natürlich vom Kontext abhängig und für jede Situation anders. Jedenfalls müssen Autoritäten betrachtet und neu geregelt werden, um eine transparente Gesamtsicht darzustellen. Austausch- und Reflexionsformate etabliert werden, um die gemeinsame Betrachtung und die Identifikation von Verbesserungsmaßnahmen zu unterstützen. Und zu guter Letzt gilt es vor allem Zielsysteme anzupassen, denn diese sind es zumeist, die lokale Optimierungen hervorrufen. Wenn Ihre Kennzahlen silohaft gestaltet sind, so darf es Sie nicht verwundern, dass sich die Silos optimieren, um die Kennzahlen möglichst gut zu erreichen, auch wenn dies dem Gesamtsystem schadet.
Viele Organisationen haben bereits erkannt, dass es auch eine andere Antwort auf die oben genannte Herausforderung gibt: Eine Umverteilung der Macht. In Kanban ist der Fluss die höchste Autorität, denn alles Streben zielt genau darauf ab, diesen Fluss zu verbessern. Im Gegensatz zu Scrum und anderen Agilen Ansätzen gibt es hier keine Betrachtung der Teams oder des erbrachten Werts für Kund:innen oder Ähnliches: Es gibt nur den Fluss und dieser muss optimiert werden. Denkbar wäre es, die organisationale Macht entsprechend anzupassen, indem die Organisation an den Wertschöpfungsketten ausgerichtet wird. In diesen service-orientierten Organisationen laufen dann die Machtgrenzen entlang einer Wertschöpfungskette, etwa indem diese als Bereiche oder Abteilungen abgebildet werden. Auch die hierarchische Macht kann dahingehend angepasst werden, z.B. mit dem Einführen der Rolle einer:s Service Managers:in, die über Abteilungen stehen kann. Damit würde die Realität von Kanban abgebildet werden, Services und somit der Wertschöpfungsstrom wären über Abteilungsgrenzen hinweg betrachtbar.
Haltung ist alles
Wie bereits erwähnt hat Kanban seine Wurzeln in Japan und bei der Umsetzung in unseren Breitengraden ist es notwendig sich das immer wieder vor Augen zu halten. Denn während es in Japan ein kulturell tief verwurzeltes Streben nach ständiger Verbesserung gibt, hört man bei uns gerne ein „Schauen wir mal“ oder „… wird schon passen“ und das war es dann auch schon wieder mit der Verbesserung. Ein berühmtes Beispiel für die japanische Kultur der kontinuierlichen Verbesserung ist das „Andon-Seil“ bei Toyota: Alle Mitarbeiter:innen, egal in welcher Rolle und in welcher Hierarchie, dürfen – wenn sie eine unerwünschte Abweichung oder ein Qualitätsproblem sehen – jederzeit dieses Seil ziehen. Daraufhin wird die gesamte Produktion gestoppt und alle versuchen gemeinsam das Problem nachhaltig zu lösen. Erst danach wird die Produktion wieder hochgefahren. Für japanische Mitarbeiter:innen ist das normal, denn es entspricht ihrer Kultur. Bei uns würde dieses Vorgehen zu starken Irritationen bis hin zu offenen Konflikten führen. Als Führungskraft ist es daher notwendig, dass Sie Formate und Räume schaffen und/oder unterstützen, die diese Kultur der ständigen Suche nach Verbesserung und Optimierung nachbilden bzw. ersetzen. Am naheliegendsten ist hier das Abhalten täglicher Stand-Ups und regelmäßiger Retrospektiven.
Durch Ziehen des „Andon-Seils“ (über der Fertigungsstraße zu sehen) kann jede:r Mitarbeiter:in bei Toyota die gesamte Produktion stoppen um Fehler zu beheben.
Eine weitere japanische Eigenheit der kontinuierlichen Verbesserung, die ich hier hervorheben möchte, ist „Gemba“. Es gibt keine gute deutsche Übersetzung für den Begriff, am ehesten passt noch das englische „Go-See“. „Gemba“ bedeutet, das Problem dort zu lösen, wo es aufgetreten ist. In einem Problemfall in der Produktionsstraße treffen sich alle zur Lösungsfindung an der betreffenden Maschine in der Produktionshalle, auch Führungskräfte und Vorstände. Praktizieren Sie Gemba und zeigen Sie Ihren Mitarbeitenden, dass Sie zum Finden von Einsichten und zur Verbesserung des Flusses genau dorthin gehen, wo das Problem liegt, egal ob dies in der Buchhaltung, der IT oder ganz woanders liegt. Eine weitere Bedeutung von Gemba lässt sich durch eine japanische Redeart erklären. Diese besagt: „Wenn Manager:innen in der Früh kürzer als 1 Stunde vom Parkplatz ins Büro brauchen, haben sie etwas falsch gemacht.“ Gemba bedeutet auch, durch die Produktionshallen zu gehen, die Mitarbeitenden und den Produktionsprozess kennenzulernen und zu verstehen. Also fragen Sie sich: Was ist Ihre „Produktion“ und was könnten Sie tun, um diese besser zu verstehen?
6 Tipps für Führungskräfte im Umgang mit Kanban
Kanban ist ein leicht erklärtes, aber schwer zu meisterndes System, denn es beruht auf einer starken Haltung der kontinuierlichen Verbesserung und absoluter Transparenz. Deswegen haben wir für Führungskräfte folgende Empfehlungen:
- Seien Sie transparent und fördern Sie Transparenz auf allen Ebenen. Denn nur wenn alles sichtbar ist, kann echte Verbesserung passieren.
- Haben Sie immer das Gesamtsystem im Blick und vermeiden Sie lokale Optimierungen mit Blick auf das große Ganze.
- Ermöglichen Sie diese gesamtheitliche Sicht auf die Wertschöpfungskette, indem Sie die Spielregeln neugestalten. Dies umfasst Autoritäten, Strukturen und Zielsysteme.
- Kanban gibt keinerlei Regeln bezüglich Arbeitsweisen und Praktiken vor. Etablieren Sie Ihre eigene individuelle Arbeitsweise, um nachhaltige kontinuierliche Verbesserung zu fördern, etwa durch Stand-Ups und Retrospektiven.
- Kanban minimiert die Anzahl gleichzeitig getaner Arbeit. Dies bedingt laufende Priorisierung. Scheuen Sie sich nicht davor zu priorisieren bzw. Priorisierung zu ermöglichen.
- Praktizieren Sie Gemba, indem Sie Ihre Wertschöpfungskette kennenlernen und bei Bedarf dorthin gehen, wo das Problem ist.
Über den Autor
Gregor Habinger ist Neuwaldegger Berater und Agile-Experte. In dieser Blog-Serie widmet er sich jedes Mal einem anderen kniffligen Thema rund um Agiles Arbeiten & Führung. Er nutzt dafür seine langjährige Erfahrung in der Begleitung agiler Transformationen, seine eigenen Erfahrungen im agilen Arbeiten und seine Expertise als Führungskraft im IT-Bereich.
Weiterbildungstipp: Agile Leadership Campus, ab 14. Juni 2023
Das Neuwaldegger Programm für Leadership in einer agilen Welt. Die Weiterbildung ist bunt und interaktiv und richtet sich explizit an Führungskräfte, an Geschäftsführer:innen und Manager:innen. Sie vertiefen Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten zu Agilen Methoden, Führung und Transformation. Dabei achten wir auf eine gute Kombination aus theoretischem Wissen, methodischen Anregungen und praktischen Übungen. Neben dem konkreten Handwerk und der Theorie arbeiten wir an der Haltung und der Integration in Ihre persönliche Arbeit als Führungskraft. Dies gelingt maßgeschneidert, da Sie durch die Potenzialanalyse konkrete Lernchancen ergreifen und ihren individuellen Entwicklungsweg im Coaching bestärkt setzen und gehen.
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