Gleichstellung – es darf auch mal privat werden
Sobald ich in Organisationen an Gleichstellungen arbeite, fragen mich in den Pausen fast immer ein paar Frauen: Wie gelingt das Private, wenn frau beruflich erfolgreich sein will? Das kommt wie das Amen im Gebet. Und schnell kommt auch die Frage an mich: Wie machst du das mit Kids, Partnerschaft, Freunden und Hobbies? Gibt es da ein paar Tipps?
Privates gelingt & Karriere
Im ersten Moment weiß ich oft nicht was ich sagen soll, frage mich ob ich ein gutes Beispiel bin. Trotzdem versuche ich es: Wie ich meine Rolle als Mutter sehe, was mir wichtig ist und welche Glaubenssätze ich gefunden und bearbeitet habe und, und, und. Was ich immer sage: „… die größte Herausforderung dabei ist aus meiner Sicht eine glückliche Partner:innschaft zu führen und dabei nicht auf sich selbst zu vergessen!“ Da tauchen wir dann oft ein. Wieso, weshalb, was zu kurz kommt, wovon es zu viel gibt.
Herausforderung Partner:innenschaft
Ich behaupte ja, dass ich mit meinem Partner glücklich bin und wir an vielen Stellen Gleichberechtigung leben – wenn wir das gesamte Paket der letzten 20 Jahre und die Entwicklung einbeziehen. Da spielen so viele unterschiedliche Aspekte mit, die ich auf die Schnelle gar nicht begreifbar machen kann. Und: es ist unsere Story, unser Werdegang, der bisher für uns passt und für den ich sehr dankbar bin.
Und da kommt das neue Buch von Nils Pickert ins Spiel: Lebenskompliz:innen – Liebe auf Augenhöhe. Pickert schafft es klug, schön und berührend, viele dieser Aspekte auf den Punkt zu bringen und zeigt, auf was es ankommt. Das Coole dabei ist, dass es kein triviales Konzept ist, sondern ein Weg mit mehreren Eckpfeilern an denen man:frau sich orientieren kann. Aber vorher wird mal kräftig gerüttelt!
Romantische Liebe wird zerlegt
Er stellt die romantische Liebe in die Mitte und dekonstruiert sie Stück für Stück. Dabei wird deutlich, weshalb diese Konstruktion Gleichstellung verhindert. Die Erwartung ist ganz einfach nicht einlösbar: die anhaltenden sparkling moments, die Aufgeregtheit, der Blick auf unser Gegenüber, der jegliche negative Eigenschaft in Luft auflöst, die Wunscherfüllungsmaschine für das eigene Gegenüber und das persönliche Verzichten für die große Liebe. Diese Annahmen und die damit verbundenen Spielregeln wirken hinderlich. Deshalb braucht es etwas anderes!
Genau das meine ich, wenn ich erkläre, das wir in den letzten 20 Jahren einiges loslassen mussten. Wir sind heute nicht mehr dieselben. Wir haben für uns neue Spielregeln gefunden. Die romantischen „Vom-Flugzeug-Abholmomente“ oder „Blumen-um-die-Liebe zu beschwören“ haben uns nicht gut getan. Heute ist uns so etwas (fast) nicht mehr wichtig.
Die 4 Ws für erwachsene Liebe
Nils Pickert führt anstelle der romantischen Liebe vier Prinzipien an. Sie sind aus seiner Sicht wichtige Bestandteile für eine Erwachsenenliebe auf Augenhöhe. Um diese 4 Ws wird permanent gerungen:
- #1 Wohlwollen:
Anstelle von „die Liebe im Hier und Jetzt beweisen“ erkennen wir uns als Menschen an. „Ich liebe dich, werde dich missverstehen und verletzen. Ich weiß, dass du mit mir das Gleiche tun wirst. … Ich setzte darauf, dass wir mehr Missverständnisse aus dem Weg räumen wollen, als sich anhäufen werden. Ich werde mit aller Kraft die bestmögliche Version von dir annehmen und ich wünsche mir, dass du das Gleiche für mich tust.“ (Pickert, Nils S. 41) - #2 Wandelbarkeit:
Wir befinden uns im permanenten Wandel, Dinge verändern sich. Deshalb setzen wir solche Veränderungen aktiv in Bezug zu unserer Beziehung, den Erwartungen und Wünschen. Es zählt nicht der Ausgangspunkt wie es „damals am Anfang“ war, sondern so wie es jetzt ist: Passen wir unter diesen Umständen noch zusammen? Was brauche ich und du mehr/weniger? Welche neuen Ziele, Interessen sind da und wie passen die in unser Leben? - #3 Wissbegier:
Aufeinander neugierig bleiben ist die Basis um Veränderungen gemeinsam gehen zu können. Dabei hilft es, mit dem Gegenüber in Gespräche zu gehen, verstehen zu wollen, nachzufragen, statt sich selbst verstärkende Selbstgespräche zu führen. - #4 Wahrhaftigkeit:
Die eigenen Bedürfnisse zu kennen und diese auch ins Gespräch zu bringen, bedeutet Ehrlichkeit. Es ist dabei nicht gemeint, dass alles erfüllt wird, aber diese Transparenz hilft beim gemeinsamen Navigieren.
Darum ringen, ja das ist wichtig …
… das dachte ich mir beim Lesen. Es gibt keine Beziehung die nicht konfliktär ist, in der wir nicht in alte Muster zurückfallen. Alles andere wäre naiv und nicht menschlich. Bedeutet aber meistens einen langen Prozess und oft über den eigenen Schatten zu springen. Und: Ich erkenne uns in jedem der 4 Ws ein wenig wieder, über andere denke ich noch immer nach. Auf jeden Fall: ein starker Start für eine Lebenskompliz:innenschaft und gemeinsame Liebe!
Das ist aber längst noch nicht alles. Besonders gefällt mir die Demut des Autors und, dass er es schafft, immer wieder den größeren Kontext dahinter aufzuspannen. Zusammengefasst sagt er, in meiner Welt: Wir leben in einer patriarchal-sexistischen Gesellschaft, seit ewig. Es wäre absurd zu glauben, dass dies nicht jede und jeden von uns massiv beeinflusst. Das muss uns bewusst sein und eine gleichberechtigte Beziehung ist schon deshalb harte Arbeit. Wir müssen diese Muster kennen, erkennen, benennen und immer wieder dafür kämpfen: in unserer Beziehung, in unserem Umfeld, für unsere Liebe. (Übrigens, ähnlich erkläre ich es auch für Organisationen: Es würde fast an ein Wunder grenzen, wenn sich keine Ungerechtigkeiten etablieren!!)
Gemeinsame Realität: Patriarchal-sexistische Gesellschaft
Ist Klarheit zu dieser gemeinsamen Realität in der Paarbeziehungen da, geht es um Verträge: Liebe braucht transparente Vereinbarungen, die gepflegt, umgesetzt und aktualisiert werden. Ja echt! Das klingt zwar super unromantisch, aber darum geht es ja nicht! Wann haben wir Paarzeit? Wer macht was wann? Wie sieht es mit eigener Zeit aus? Wie gehen wir mit Konflikten um? Welche Regeln sind uns wichtig? Für was brauche ich Wertschätzung? Und auch: Wer will ich, wer wollen wir sein und werden? Nils Pickert spart in seinem Buch nicht mit eigenen Beispielen und verdeutlicht dabei auch, dass permanentes Dranbleiben total wichtig ist. Es hört nie auf.
Das ist auch meine Erfahrung. Sicherheit entsteht bei mir erst, indem wir beide wissen, dass wir beim Gegenüber dranbleiben. Dass wir uns gegenseitig nicht selbstverständlich sind. Dass wir beide unsere Bedürfnisse kennen und die des anderen versuchen zu verstehen und teilweise auch integrieren.
Liebe = ineinander beheimaten
Pickert beschreibt das als Liebe und meint, dass Liebe ein Prozesse des „ineinander beheimaten“ ist. Darum dreht sich dieses Buch! Für die Nerds unter uns (hier wurde auch Luhman zitiert ;)), hier die längere Version: „Sich ineinander zu beheimaten, ist eine Form der intersubjektiven Anerkennung, in der man füreinander Verantwortung übernimmt und symbolisch generalisiert miteinander kommuniziert, um Verständnis überhaupt erst möglich zu machen.“
Ja ich weiß, letzteres klingt ein wenig sperrig, dafür ist es sehr präzise! Im Zentrum steht: ineinander beheimaten. Wow! So habe ich noch nie darüber nachgedacht. Ich finde es einen schönen Gedanken, der mich sehr berührt. Genau das versuche ich seither besser zu verstehen und zu spüren. Was bedeutet das für mich? Für uns?
Lebenskompliz:innenreise
Ich bin Nils Pickert unendlich dankbar für seine Gedanken, die gefundene Sprache und die Form, Übende sein zu können. Für den wunderschönen Impuls, um Gleichstellung weiterzudenken, den ich auch an der Schnittstelle zu Organisationen aufgreifen werde. Und für meine neu aufgeladene Lebenskompliz:innen-Reise, die ich fortführe!
Also ein wirkliches Must-read!
Lebenskompliz:innen – Liebe auf Augenhöhe
Pickert, Nils (2022)
Beltz Verlag
Über die Autorin
Barbara Buzanich-Pöltl ist Beraterin und Managing Partnerin bei Neuwaldegg. Sie ist Programmleiterin des Gender Equality Labs und Keynote-Speakerin. Neben ihrem Herzensthema Gender Equality bewegen sie vor allem die Themen Agile Transformation und Purpose und Strategie. Dazu hat sie auch mit Frank Boos das Buch „Moving Organizations“ geschrieben und sie ist Programmleiterin des Workshop-Formats Agiler Freiraum, das dem Experimentieren mit agilen Facetten dient.
Gender Equality Lab
Ein innovatives Praxis-Programm für Organisationen, die durch Gleichstellung ihr volles Potenzial entfalten möchten. Wir richten uns an Frauen und Männer, die mit uns Vorreiter:innen sind und Organisationen gestalten. Nächster Start: Oktober 2022
Weitere spannende Beiträge
arrow_back Podcast: Gleichstellung in Organisationen
arrow_back Blogpost Gleichstellung – Wo stehen wir?
arrow_back Kopf des Tages: Barbara Buzanich-Pöltl in SHEconomy
arrow_back Interview: Es braucht ein Gegenüber, das Gleichstellung wirklich fördert, SHEconomy