Unsere Learning Journey – “systemisch vertiefen”
Um zu lernen, müssen Dinge in Bewegung kommen. Gedanken, Ansichten, Haltungen, Synapsen und in diesem Fall sogar eine ganze Gruppe Berater:innen, die sich an einem Montag sehr früh in einen Zug von Wien nach München setzt, um drei Tage dem gemeinsamen Lernen zu widmen.
Eine schöne Tradition
Diese Gruppe waren natürlich wir, die Beratergruppe Neuwaldegg, voller Vorfreude, unsere eigene Beratungspraxis einer gründlichen Theoriereflexion zu unterziehen. Nicht jede:r für sich allein, mit Texten, Büchern, Podcasts und Gesprächen, sondern alle gemeinsam miteinander, zu Gast bei zwei großartigen Gegenwartsdenkern – aber dazu später mehr.
Gemeinsame Learning Journeys haben bei Neuwaldegg Tradition: London, Berlin, San Francisco, Las Vegas, soweit können wir noch zurückdenken. Unsere Gründergeneration hat das gemeinsame Reisen etabliert – den eigenen Kontext verlassen und gemeinsam in andere Welten eintauchen. Die Liste ihrer Reisen reicht weit länger.
Gut vorbereitet
Was bei uns zu dieser Tradition gehört ist, Reisen gut vorzubereiten. Wie wird es zu einer “Sensing Journey”, wo man nicht Bekanntes bestätigt, sondern wo Neues emergieren kann?
Wir haben dieses Mal nur wenig vorausgeschickt – gut ausgewählte Texte – lieber weniger als mehr lesen. Offen reingehen.
Auf drei Dinge haben wir großen Wert gelegt: Inhaltlich genaue Briefings mit den Denkern, die wir besuchen. Die Journey für unsere Kolleg:innen so “barrierefrei” wie möglich zu machen. Und Liebe zu den Details.
Unser Team ist also neugierig in den Zug gestiegen und hat gehört, warum die Croissants nicht zufällig sind (vielschichtig). Nach dem Frühstück gab es Säckchen mit Zetteln, um in Gruppen innerlich einzusteigen:
Auf welche Reise begebe ich mich hier. Was wäre ein Wagnis? Was sind die Chancen und Grenzen der Gruppe, die hier reist? Welche Versicherung sollten wir abschließen?
Begegnung mit Armin Nassehi
Unseren ersten Gast, Armin Nassehi, einen der derzeit einflussreichsten deutschsprachigen Soziologen, treffen wir in einem gemütlichen kleinen Co-Workingspace in einer ruhigen Gegend von München. Wir sind sehr neugierig: Er würde uns einen Einblick in sein neues Buch geben. Um Transformation würde es gehen und sein gesellschaftstheoretischer Blick würde durch den unseren – mit Fokus auf Organisation – gut ergänzt, so unsere gemeinsame Annahme im Vorfeld. Ein kurzer theoretischer Input zu Beginn sollte ausreichen, um dann gemeinsam „ins Arbeiten“ zu kommen.
Tatsächlich ist genau das auch unser Wunsch und Ziel beim Gestalten von Learning Journeys. Besucher:innen und Besuchte sollen am Ende bereichert wieder auseinandergehen. Und genau so war es dann auch!
Anders über Transformation nachdenken
Armin Nassehi stellte uns einen kurzen Überblick der 8 Kapitel sowie den kontraintuitiven, wenngleich ungemein passenden Titel seines Buches vor: „Kritik der großen Geste – anders über Transformation nachdenken.“ In der darauf folgenden Diskussion ging es viel um die Kompetenz, die es braucht, um Brücken zu bauen zwischen konträr verlaufenden Systemlogiken. Mittler:innen zwischen Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Und darum, wer diese Rollen denn einnimmt und einnehmen kann während sich im Kern Latenz und Trägheit als entscheidende Mechanismen von Transformation entpuppen.
Puh! Das war natürlich viel und ein halber Tag reicht niemals, um all die Fäden auch nur ansatzweise zu durchdringen und zu ergreifen. Deshalb mussten wir auch hier wieder „verdauen“. Zunächst bei einem schönen Essen „unter uns“ und am nächsten Tag tatsächlich organisiert und in einer Form, die uns auch hilft, das Gehörte in unsere Praxis zu übertragen:
Was hat Eindruck hinterlassen
Was hat “Eindruck” hinterlassen? In einem Open Space Prozess haben wir in Gruppen vertieft: Das Thema der “Latenz in Systemen” und die Frage: “Inwieweit Organisationen ein Hebel für gesellschaftliche Veränderung sein können”.
Eine Meeresschildkröte schwamm bereits unmerklich durch den Raum und mit ihr tauchten neue Dinge wie die “Latenzkompetenz” auf.
Noch ein Kapazunder
Den Nachmittag mit Matthias Varga von Kibéd haben wir mit einigen Gämsen verbracht. Der Logiker und Wissenschaftstheoretiker, der für uns ein wichtiger Lehrer in systemischer Strukturaufstellung ist, fand es famos, dass nach zig Jahren die Neuwaldegger:innen wieder mit ihm zusammensitzen und über Grenzziehung sprechen. Es ging um den elementarsten Systembegriff und warum etwas nicht “systemisch”, sondern nur “systemischer” genannt werden kann.
Stundenlang sind wir gemeinsam über die Grenzen hin- und hergegangen – innen, außen und wieder zurück. Ein Chamäleon hat sich in der Mitte niedergelassen, während wir über Grenzziehung sinniert haben, über den Kontext der Grenze und die Kontextualisierung und wie all das wieder auf sich selbst angewandt wird. Ein Glück, dass hier und da Delfine durch kristallklares Wasser getaucht sind.
Aufarbeiten der Pandemie-Zeit
Manche Kolleg:innen sind am dritten Tag mit dem dringenden Wunsch aufgewacht – bitte praktischer heute! Das muss einen Phönix in der Morgensonne Schwabings angelockt haben.
Unser Anliegen war es, die Pandemie-Zeit bei Neuwaldegg aufzuarbeiten: Wie sind wir damit umgegangen? Was hängt davon noch nach? Was hat es mit uns gemacht? Was hat es ermöglicht und was hat es uns sozial oder individuell gekostet?
Das 5-Tiere-Schema
Anhand seines 5-Tiere-Schemas hat Matthias uns in den Prozess mitgenommen.
Er unterscheidet dabei 5 logische Archetypen in Tiersymbolik. Die Tiere stehen für fünf grundsätzliche Haltungen im Umgang mit etwas:
- Die Gämse für die Objektlogik – schrittweises Vorgehen, Veränderung wird auf Basis von festen Objekten und Strukturen beobachtet
- Der Delfin für die Prozesslogik – Modulation und interaktives Lernen, die Gegenstände ergeben sich aus der Interaktion und Entwicklung
- Das Chamäleon für die Entscheidungslogik – das systemische Tier steht für kontextuelle Differenzierung, Perspektivwechsel, Wahl und Entscheidung
- Die Meeresschildkröte für die Emergenzlogik – in sich ruhende Weisheit, fest verwurzelt im Bodenlosen – wie aus der Betrachtung einer Ganzheit, die als Ganzes nicht erfasst werden kann, ein neues Muster aufsteigt.
- Der Phönix, der sich aus der Asche erhebt, für die Paradoxienlogik – paradoxe Weisheit, die Selbstüberschreitung – wo kommt etwas prinzipiell Neues zustande, das ohne eine schmerzhafte Wiedergeburt nicht zustände käme
Für die Organisationsentwicklung spielen alle fünf Logiken eine Rolle. Matthias hat sie in Tierform entwickelt, um die abstrakten logischen Grundlagen leichter verständlich und erfahrbar zu machen. So kann man z. B. Konflikte oder Gegensätze in Systemen mit dieser Brille betrachten – welche zwei Tiere stehen da im Dialog. Matthias nutzt die Tiere zum Beispiel für solche Übergänge – wie gelingt das Verständnis für die Logik der anderen.
Unsere Arbeit mit den Tieren
Nun zurück zu unserer Reise und dem Thema der Pandemie:
Jede:r von uns hat anhand der 5 Tiere die eigene Pandemie-Erfahrung aufgerufen und mit den Qualitäten dieser 5 Archetypen angereichert.
Das Vergemeinschaften dieser Geschichten – die so verschieden sind, obwohl wir diese schwierige Zeit gemeinsam durchlebt haben – hat unterwegs vieles gelöst und geheilt.
- Die existentielle Angst der Neuen, deren Onboarding in den Lockdown und in die größte Unternehmenskrise der Neuwaldegg-Geschichte gefallen ist.
- Das wohlige Cocooning jener, die in der Zeit in Babypause war und die entschleunigte Welt mit Familie genießen konnte.
- Der High Level Stress über Wochen, von jenen, die in Verantwortung für Umsatz und Mitarbeitende alles in Bewegung gesetzt haben, um die Firma über Wasser zu halten.
- Die Spannung während der vielen Pandemie-Monate im Büro oder in Workshops zwischen jenen, die lange auf Sicherheit setzen wollten mit Abstand, Lüften, Desinfektion und jenen, die sich schon früher wieder nach Normalität gesehnt haben.
Die 5 Tiere haben all das Unausgeprochene in den Raum gebracht, so dass es ohne viel Worte individuell und kollektiv ein Stück heilen konnte.
Wir haben mit Matthias auf so vielen Ebenen und in so vielen Schichten gelernt, dass wir wieder beim Croissant ankommen, mit dem die Reise begonnen hat. Zerbröselt, zersaust und glücklich über den köstlichen Geschmack dieser gemeinsamen Tage – sind wir in Wien zurück.
Grenzerfahren, mit wachsender Latenzkompetenz und fünf neuen Tieren in unserem Büro.
Über die Autorinnen
Franziska Fink ist systemische Beraterin & Coach, Purpose-Expertin, Buch-Autorin, Partnerin und Co-Programmleiterin des Neuwaldegger Coaching Campus. Hier schreibt sie in der Rolle „Academy“ mit dem Purpose: „Weiterentwicklung unserer Beratungspraxis im gemeinsamen Dialog als wissende Lernende“
Mit ihr gemeinsam hat Friederike Machemer die Reiseleitung dieser Learning & Sensing Journey für die Neuwaldegger:innen übernommen. Friederike ist systemische Beraterin, Partnerin, Selbstorganisations-Expertin, Supervisorin bzw. Trainerin in unseren Weiterbildungen, z.B. im Agile Leadership Campus.